Terror in München: Eine ganze Stadt im Ausnahmezustand
Tote, Verletzte. Die Bilder sind ein Albtraum. Und im Land denken nach dem Anschlag alle nur das eine: Jetzt hat es auch uns erwischt. Der Terror in München kann das Gefühl eines ganzen Landes ändern.
Irgendwann an diesem Freitagabend ist München, diese drittgrößte Stadt in Deutschland, 1,4 Millionen Einwohner, irgendwann wie menschenleer. Im Fernsehen und auf den sozialen Kanälen laufen pausenlos Bilder, die man nicht wirklich einordnen kann, es sind auch Bilder von einer unheimlichen Leere. Hinter diesen Bildern aber verstecken sich die Panik einer Stadt, die Panik eines ganzes Landes und die Erkenntnis: Auch wir sind nicht unverwundbar, auch wir sind im Visier, und womöglich hat es jetzt auch uns erwischt. Noch am frühen Abend, als noch niemand genau weiß, was da eigentlich wirklich passiert, drückt es eine Polizeisprecherin auf ihre Art aus: „Das ist ein größeres Ding.“
Es hat schon Anschläge gegeben, auch Tote, wie auf dem Frankfurter Flughafen, Verletzte, wie nach der Axt-Attacke im Würzburger Regionalzug. Es hat Bedrohungen gegeben, von denen niemand wusste, ob sie real waren, wie beim Fußball-Länderspiel in Hannover. Aber diese Dimension, die Paris- oder Nizza-Dimension, gab es noch nicht. Deutschland schien bisher gefeiht davor zu sein, in öffentlichen Diskussionen wurde immer wieder auch über diesen Aspekt gesprochen. Wann passiert es bei uns? Und dann sagten die Sicherheitsexperten, und auch der Bundesinnenminister, meistens diese zwei Sätze. Dass nämlich einerseits die Sicherheitsbehörden hervorragende Arbeit geleistet hätten, dass wir aber andererseits vor allem eines gehabt haben: Glück.
Um 17.52 Uhr gibt es den ersten Hinweis darauf, dass dieses Glück womöglich aufgebraucht ist. Da geht der erste Alarm bei der Polizei ein. Zu diesem Zeitpunkt ist alles unklar. In einem Einkaufszentrum in München-Moosach, nahe dem Olympiastadion gelegen, fallen Schüsse. Fast 140 Geschäfte auf zwei Ebenen, 56 000 Quadratmeter Verkaufsfläche. Westliche Konsumwelt in seiner konzentriertesten Form. Es ist, irgendwie, ein logisches Terrorziel, in der perversen Logik des Terrors jedenfalls.
Der Blogger Richard Gutjahr war schon in Nizza
Bald darauf kommen Menschen aus dem Gebäude gelaufen, Augenzeugen berichten über die sozialen Medien, die Polizei hält sich noch bedeckt. Wenig später ist klar, dass offenbar drei Täter mit Gewehren wild um sich geschossen hatten, von denen nun niemand weiß, wo sie sich seitdem aufhalten.
Zufällig ist auch Richard Gutjahr vor Ort. Der prominente Blogger war bereits Zeuge des Attentats von Nizza, hatte dort auf dem Balkon seines Hotelzimmers gestanden, als der weiße Lkw Tempo aufnahm. Gutjahr filmte alles mit seinem Smartphone, Millionen sahen die Bilder später im Fernsehen. Und jetzt, nur acht Tage später, ist er erneut dem Horror sehr nahe, in Sichtweite des Münchner Einkaufszentrums. Er fotografiert Polizisten vor dem Eingang, twittert das Foto und schreibt dazu, sie wirkten nervös. Diesmal erntet er Wut im Netz – wie könne man denn so unverantwortlich sein, so etwas während eines laufenden Einsatz zu twittern? Das könnten schließlich auch die Attentäter sehen!
Es sind normale Streifenpolizisten, die sich Kevlar-Westen übergeworfen haben, daneben Beamte in kurzen Hosen und T-Shirts, die mit Sturmmasken ihr Gesicht verdecken. Ein Smartphone-Video, das im Einkaufszentrum aufgenommen worden sein soll, zeigt zwei Beamte, die sich langsam durchs Erdgeschoss des Gebäudes vortasten. Vorbei am H&M, im Klamottenladen daneben stehen noch Menschen. Die Polizisten bedeuten ihnen, nach draußen zu rennen. Auch aus der Tiefgarage gibt es Aufnahmen. In Teams durchkämmen Polizisten die Anlage, hetzen von einer Deckung in die nächste. Auch hier fliehen die Menschen in Panik. Eine Frau verliert einen ihrer Schuhe. Er bleibt auf der Straße liegen.
Dann ziehen vor dem Eingang Spezialkräfte auf. Sie sind ausgerüstet wie im Krieg. Fotos zeigen sie mit ihren Maschinenpistolen im Anschlag, Helm, Ferngläsern und ihrer grünen gepanzerten Kampfuniform. Sie sollen das Einkaufszentrum sichern, drinnen ist alles durchsucht. Von den Tätern keine Spur.
Der öffentliche Nahverkehr wird lahmgelegt. Zuerst bekommen die U-Bahn-Schaffner Anweisung, am Bahnhof Olympia-Einkaufszentrum nicht mehr zu halten, einfach durchzufahren. Auch oben die Busfahrer der vier betroffenen Linien. Eine halbe Stunde danach wird der Befehl ausgeweitet: Der gesamte Münchner Nahverkehr wird eingestellt. Später der Hauptbahnhof abgeriegelt, der Fernverkehr ausgesetzt. Einerseits will die Polizei die Menschen von der Straße haben, andererseits wissen diese nicht, wie sie von der Straße kommen sollen. Die Stadt, die vielen belebten Orte an einem eigentlich wunderbaren Sommertag, sie leert sich, Angst breitet sich über die gesamte Stadt aus wie ein unsichtbares Tuch. Und so geraten die Menschen, nach und nach, nicht nur in der direkten Umgebung des Einkaufszentrums, nicht nur im Stadtzentrum, sondern überall in Panik. Eltern rufen ihre Kinder an, über WhatsApp wird ständig kommuniziert. Ein typischer Dialog, wie der zweier 12-jähriger Jungen, deren Vater in Berlin ist, der geht so: „Bei dir alles okay?“
„Ja, aber die Mama ist am Isartor. Hoffentlich is nix passiert!“
Was wird der Anschlag aus dem Land machen?
Menschen, sofern sie sich noch auf der Straße aufhalten, starren in ihre Handys, tippen wild drauflos, versuchen Freunde anzurufen. Jede Minute eine andere Information. Es gibt Fehlalarme, Falschmeldungen, immer wieder auch die Hoffnung, dass es vielleicht so schlimm nicht sein würde. Überall sind Sirenen zu hören, selbst in Stadtvierteln weit außerhalb der City rasen Polizeiautos mit Blaulicht durch die Straßen. Im Fußballverein „Sportfreunde München“ in der Säbener Straße, gleich neben dem FC Bayern, weit weg von den Geschehnissen, holen besorgte Väter ihre Jungs mit dem Auto ab. Im gegenüberliegenden Kinderhort solle am Abend eine Schnitzeljagd stattfinden – sie wird abgesagt, wie so vieles an diesem Abend. Die Kleinen, Dritt- und Viertklässler, sind beunruhigt, fragen, was los sei. Die Erzieherinnen wollen es ihnen erklären, aber sie wissen ja selbst nichts. Und selbst, wenn man es genau wüsste, wie erklärt man das?
Vielleicht versteht man jetzt den Bundesinnenminister ein wenig besser, wenn man zurückdenkt an jenen Tag im März, als sich Thomas de Maizière offenbar lächerlich machte. Er sagte einen sehr merkwürdigen Satz öffentlich, nachdem er angeordnet hatte, aufgrund von Terrordrohungen das Stadion zu räumen. Er sagte mit seinem typisch unbewegten Gesicht, dass er nicht alles sagen könne, weil „ein Teil dieser Antworten die Bevölkerung verunsichern würde“.
Vielleicht versteht man den Bundesinnenminister jetzt besser
Nach München kann man diesen Satz vielleicht besser übersetzen. Er wollte auch sagen, dass wir Deutschen, dass dieses Land, das doch wirtschaftliche und politische Führungsmacht in Europa ist, noch nicht so weit sind. Wir können vielleicht besonnen sein, so lange nichts passiert, das schon, aber wir können nicht gut aushalten. Das, was beispielsweise in Israel Alltag ist, was mittlerweile in Frankreich fast schon zum Alltag geworden ist, die ständige Bedrohung nämlich, das Wissen, an jeder Bushaltestelle oder an jedem öffentlichen Ort etwas geschehen kann. Das ist die eigentliche Dimension, die der CDU-Politiker auch im Kopf gehabt haben musste, nur wie sollte er das ausdrücken. Damals durfte man es nicht sagen, heute, nach München, muss man es sagen. Damit das Land sich darauf einstellen und lernen kann, mit der neuen Lage, der anderen Dimension, umzugehen. Es wird schwer werden.
Bisher konnten die Deutschen in erster Linie solidarisch sein, sie fühlten mit den anderen, aber es war auch schwer nachzuvollziehen, weil es sich dort, wo nichts passiert, einfach anders anfühlt. Vielleicht ist es damit jetzt vorbei, selbst dann, was wahrscheinlich ist, wenn Deutschland und Europa keine „israelischen Verhältnisse“ bekommt, wird sich das Lebensgefühl womöglich dauerhaft ändern. Im Stadion, auf dem Christopher Street Day, in der U-Bahn während der Rushhour. Damit werden nach den Franzosen nun auch die Deutschen klar kommen müssen. Sie werden lernen müssen auszuhalten.
An diesem Abend gibt es ein Grundgefühl, es ist das Gefühl der Verunsicherung. Überall ist es zu spüren, denn überall wissen die Menschen nicht mehr, woran sie sich festhalten können. Die sozialen Medien machen dieses Gefühl noch viel größer. Ein Beispiel dafür ist ein Video, das frühzeitig kursiert und einen jungen Mann auf dem Dach eines Parkhauses zeigt. Man hört Stimmen von zwei Männern, die sich wüst beschimpfen; von Kanaken und Hartz-IV ist die Rede. Danach sind Schüsse zu hören. Schnell machen Gerüchte die Runde, dass es sich um einen Rechtsextremen handeln könnte. Vielleicht ist es nur ein Fake, vielleicht ist es aber sogar die Wahrheit. Es würde den kompletten Fall, die gesamte Einordnung drehen. So aber gibt es nur einen Fakt, der wirklich gewiss ist, dass sich in dieser Nacht Vermutung und Wahrheit so vermischen, dass die Menschen sie nicht mehr auseinanderhalten können.
Freitag vor fünf Jahren mordete Anders Behring Breivik
Es ist ja auch nicht so, dass es nur den islamistischen Terror gibt. Trittbrettfahrer sind nun überall unterwegs, von rechts bis links, offenbar beseelt davon, zu töten. Manche radikalisieren sich so schnell, dass man es nicht zu glauben vermag, andere versinken in die kruden Theorien der Terroragenten. Der gestrige Freitag, der 22. Juli, war auch der Tag vor fünf Jahren, an dem der Norweger Anders Behring Breivik 90 Minuten lang Amok lief, angetrieben von Fremdenhass und Wahnsinn, und dabei 77 Jugendliche in ihrem Feriencamp tötete.
Die Bilder vom Freitagabend werden uns verfolgen, denn sie sind unser Albtraum: Rennende Polizisten mit Maschinenpistolen, die Hände am Abzug. Beamte eines Spezialkommandos, die ein angrenzendes Parkhaus stürmen, mit geduckten Köpfen. Wann hat es solche Bilder in Deutschland zuletzt gegeben? In München kann man das genau datieren. Es war der 5. September 1972, als acht bewaffnete Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation Schwarzer September das Wohnquartier der israelischen Mannschaft während der Olympischen Sommerspiele in München stürmten und elf Mannschaftsmitglieder als Geiseln nahm. Damals wurde auch die Anti-Terroreinheit der Bundeswehr, die GSG9, gegründet, die nun mit Polizei-Hubschraubern über der Stadt kreist.
Damals gingen die Spiele einfach weiter, eine undenkbare, unmögliche Entscheidung aus heutiger Sicht. 1980 wurde München noch einmal vom Terror erschüttert: 13 Menschen starben beim Oktoberfestattentat. Am Freitagabend, spätestens als die ersten Bilder von fliehenden Menschen laufen, von Eltern mit ihren Kindern auf dem Arm, werden überall in der Stadt schnelle, spontane und sehr nachvollziehbare Entscheidungen getroffen: Es wird alles abgesagt, was an öffentlichen Veranstaltungen stattfinden sollte, die Dinge, die Events, die schon laufen, werden abgebrochen. Beim Tollwood-Festival tritt an diesem Abend Mark Foster auf. Nach der Schießerei spielt er zunächst, um die Menschen nicht zu beunruhigen, weiter. Später wird das Gelände evakuiert, und die Nachtklubs der Stadt machen die Schotten dicht.
Kurz nach 21 Uhr improvisiert die Münchner Polizei eine Pressekonferenz. Der Sprecher benennt erstmals die Zahl der Opfer: Fünf Tote, mehrere Verletzte. Die Polizei suche im gesamten Stadtgebiet nach den Tätern, sagt er. Die Reporter rücken mit ihren Mikrofonen noch etwas näher. Einer will wissen, woher sie denn wüssten, dass die Attentäter nicht schon geflohen seien. Der Polizist muss sich kurz sammeln, er sagt dann ruhig: „Weil wir sehr schnell sind. Und weil wir auch um die Stadt herum umfangreiche Fahndungsmaßnahmen durchführen.“
Kaum ist die eilig einberufene Konferenz vorbei, korrigiert sich die Polizei auf Twitter. Es sind acht Tote. Und niemand kann mit Gewissheit sagen, wie viele es noch werden.
Was jeder einzelne Mensch, der an den Tatorten war, wirklich durchgemacht hat, kann man nur erahnen. Hört man genau zu, dann spürt man, was es aus den Menschen machen wird, die dabei waren und die überlebt haben. Eine Frau, die in der Nähe des McDonald’s war, als die Schüsse fielen, berichtet später Reportern des Bayerischen Rundfunks von ihrem Erlebnis. „Wir haben uns gerade angestellt, dann ist Panik ausgebrochen.“ Sie sagt das so dahin, erst einmal, dann ringt sie um Fassung, zieht immer wieder an ihrer Zigarette, dann erst kann sie weitererzählen: „Zuerst sind die Arbeiter raus gerannt, dann alle hinter her. Die Kinder haben geschrien, alle übereinander – die sind panisch ausgerastet.“ Den Täter habe sie nicht gesehen. Nur gehört, drei Schüsse, sagt sie: „Bang, Bang, Bang.“
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