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Edmund Stoiber, ehemaliger CSU-Chef und Ministerpräsident in Bayern, hat große Sorgen um Europa. Donnerstag ist EU-Coronagipfel.
© imago images/Future Image

Stoiber über legitime Italien-Hilfe: „Eine Art Marshall-Plan ist eine gute Antwort“

Der ehemalige bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber über die Pandemie als größte Herausforderung seit dem Krieg und Europa als Gefühlsunion

Herr Stoiber, haben Sie Angst um Europa?
Angst ist das falsche Wort. Es ist eher große Sorge, denn Corona wird uns noch lange über die hoffentlich baldige Entwicklung eines Impfstoffs hinaus beschäftigen und unser Leben verändern. Nicht nur in Europa, sondern weltweit. Wir wissen aber noch nicht, mit welcher Intensität, gerade was die wirtschaftlichen Folgen betrifft. Die Pandemie ist für unsere Gesellschaft die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg.

Worauf bezieht sich Ihre Sorge konkret?
Europa ist kein Bundesstaat mit daraus folgenden einheitlichen Vorschriften, sondern ein enger Verbund souveräner Nationalstaaten. Bei allen europäischen Entscheidungen müssen die Nationen deshalb erstmal einen Konsens finden. Im Infektionsschutz gibt es keine originäre europäische Zuständigkeit. Wir Deutschen haben aus der dramatischen Corona-Entwicklung in Italien, Spanien oder auch Frankreich gelernt und national gehandelt. Auch andere haben das getan. Es gab keinen Gleichschritt. Es konnte ihn nicht geben. Festzuhalten ist aber, dass Deutschland besser damit fertig geworden ist als die meisten anderen Länder.

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Nationales Handeln, auch wenn es gut ist, reicht nicht?
Nicht während einer Pandemie, die alle Länder gleichermaßen betrifft. Wir sind eine Europäische Union, wir können auf Dauer in solchen Krisen nicht allein national handeln. Das gilt im Übrigen nicht nur in Krisensituationen. Gerade wir Deutschen dürfen aufgrund unserer Verantwortung aus der Geschichte und als starkes Land mitten in Europa unser nationales Tun nie isoliert betrachten, auch wenn es aus unserer Sicht richtig und gut ist. Die Europäische Union ist auch ein emotionales Objekt, sie ist auch eine Gefühlsunion. Das muss immer mitgedacht werden. Europa ist jetzt beim Wiederaufbau gefordert.

Frankreichs Präsident Macron sagt, es sei angesichts der Coronakrise die Stunde der Wahrheit gekommen, um zu zeigen, ob Europa ein politisches Projekt ist oder lediglich ein Markt.
Das ist natürlich eine Zuspitzung vor dem EU-Gipfel zu Corona am Donnerstag. Man muss, um das zu verstehen, historisch zurückblicken…

Gern.
Ursprünglich, beginnend mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1951 und den Verträgen von Rom 1957, ging es letztlich um ‚Nie wieder Krieg‘, später um einen gemeinsamen Markt, offene Grenzen und schließlich auch um die Währungsunion. Damals, vor der Einführung des Euro, haben wir diskutiert, ob nicht eine institutionelle politische Union die Grundlage für eine gemeinsame Währung sein muss. Die Antwort etwa Helmut Kohls lautete: das dauert zu lange, weil Europa in diesem Sinne nicht einigungsbereit ist. Kohl hoffte, dass der Euro die politische Union beschleunigen würde.

So wurde der Euro zum Hoffnungsträger der politischen Union…
Ja, aber diese Hoffnungen haben sich nicht alle erfüllt. Eine „ever closer union“, ein immer engerer Zusammenschluss Europas, wie das als Ziel schon in der Präambel der Römischen Verträge enthalten ist, ist heute auch aufgrund der enormen kulturellen und wirtschaftlichen Unterschiede der EU-Staaten, die langfristig durch die Aufnahme der Westbalkanstaaten noch mehr werden sollen,  nicht mehr realistisch. Wir dürfen nicht vergessen, dass etwa die osteuropäischen Länder eine ganz andere Nachkriegsgeschichte haben als die westeuropäischen. Trotzdem ist Europa natürlich weit mehr als ein Wirtschaftsprojekt, auch wenn die Wirtschaft am intensivsten geregelt und vereinheitlicht ist.

Kann Europa die Coronakrise gemeinsam überstehen oder werden die Nationalismen weiter wachsen?
Kann Europa die Coronakrise gemeinsam überstehen oder werden die Nationalismen weiter wachsen?
© Karl-Josef Hildenbrand/dpa

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Ist es also richtig, in dieser Situation vor allem national zu handeln, Grenzen zu schließen, Exportstopps zu verhängen, auf sich zu schauen?
Wir müssen da fair bleiben: Deutschland hat national gehandelt, weil es aus der dramatischen Situation in Italien gelernt hat und Brüssel aufgrund seiner fehlenden Zuständigkeit eben nicht direkt sichtbar war. Die Deutschen haben die massiven Einschränkungen in ihrem Leben bisher sehr diszipliniert hingenommen. Laut Umfragen gibt es ein sehr hohes Ansehen für die handelnden Politiker wie Kanzlerin Merkel oder Ministerpräsident Söder.

Davon haben die anderen Bürger in Europa wenig, Deutschland, heißt es, schaut nur auf sich. Italien will unbedingt die Euro-Bonds oder Wiederaufbau-Bonds, Merkel lehnt sie strikt ab.
Zunächst einmal muss man anerkennen, dass die EU schon ein gigantisches Rettungspaket geschnürt hat, mit über 500 Milliarden Euro Hilfen. Dazu kommen die zusätzlichen Interventionen der Europäischen Zentralbank, die Lockerung des Stabilitäts- und Wachstumspakts und weitere Maßnahmen. Mittlerweile nimmt die Europäische Kommission ihre Koordinationsaufgabe sehr engagiert wahr.

Das hilft den Italienern noch nicht...
Es ist legitim, wenn die Italiener, die von der Pandemie neben Spanien am stärksten betroffen sind, nun europäische Hilfe beim wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes erwarten. Und ich verstehe auch die Sorge, dass populistische und antideutsche Tendenzen wachsen. Trotzdem bin ich der Meinung, dass das jetzt gelöst werden kann, dass das, was wir da sehen, zum normalen politischen Ringen gehört. Ich stimme Italiens Regierungschef Conte in seiner unnachgiebigen Forderung nach Corona-Bonds nicht zu, trotzdem müssen wir Deutsche jetzt neues Vertrauen schaffen.

Angela Merkel lehnt Coronabonds für Italien strikt ab.
Angela Merkel lehnt Coronabonds für Italien strikt ab.
© Reuters/Hannibal Hanschke

Wie?
Der Kommissionsvorschlag, einen Wiederaufbaufonds in Billionenhöhe als Teil des siebenjährigen EU-Haushalts zu schaffen, ist ein guter Vorschlag. Der nächste EU-Haushalt muss ein gutes Stück weit ein Corona-Haushalt werden. Ich finde einen solchen Fonds, der in den Haushalt eingebettet ist und den die EU-Staaten anteilig finanzieren, auch deshalb richtig, weil er demokratisch durch Beschlüsse des Europäischen Rats und letztlich auch von Bundestag und Bundesrat legitimiert wird. Dieses gemeinsam aufgebrachte Geld, eine Art Marshall-Plan, ist eine gute Antwort auf die legitimen Empfindungen von Ländern wie Italien und Spanien.

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Nicht alles ist mit Geld zu regeln, und ein Einheitsgefühl erzeugt es auch nicht immer.
Das stimmt. Deshalb muss sich Europa darauf besinnen, wo es wirklich besser werden kann und wo es Sinn macht, dass Brüssel mehr Einfluss und Entscheidungsgewalt bekommt. Es gibt da nach wie vor sehr viele Themen, die einen europäischen Mehrwert haben: vor allem die Asylpolitik und die Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch die Digitalisierung.

Was schlagen Sie vor, Sie haben sieben Jahre in Brüssel für Bürokratieabbau gekämpft?
Europa muss in großen Projekten denken und sich darauf konzentrieren. Wir dürfen bei Streit und unterschiedlichen Meinungen nicht immer sofort die EU grundsätzlich in Frage stellen. Wir können nun mal politische Einstimmigkeit für komplexe politische Themen nicht erzwingen.

Was wäre ein solches Projekt?
Als wir im Jahre 2002 über eine europäische Verfassung diskutiert haben, die dann letztlich am Widerstand Frankreichs und der Niederlande gescheitert ist, war auch eine europäische Zuständigkeit für Pandemiebekämpfung in der Diskussion. Darüber sollte jetzt wieder stärker geredet werden.

Haben wir dann den Multilateralismus gerettet und unseren Einfluss in der Welt gestärkt?
Europa kann mit seinem „European Way of Life“, der auf einer sozialen Marktwirtschaft beruht und die Würde und die Freiheit des Menschen in den Vordergrund stellt, ein Schrittmacher für Multilateralismus sein. Während der Finanzkrise haben die Deutschen das Kurzarbeitergeld eingeführt, das hilft uns auch jetzt und es wird demnächst europäisiert. Ein Erfolg! Das kann auch ein Vorbild für andere Weltregionen sein. Die Menschen sehen doch jetzt, was wir schaffen im Vergleich etwa zu den USA. Da sind jetzt 22 Millionen Menschen ohne Arbeit und noch mehr ohne Krankenversicherung.

Global betrachtet sinkt das Vertrauen in supranationale Organisationen, stattdessen wächst der Populismus.
Wir haben in den USA nicht erst seit Trump die Tendenz zu „America first“. Leider ziehen sich die USA Schritt für Schritt aus wichtigen multilateralen Organisationen zurück, denken Sie zuletzt an den Zahlungsstopp für die WHO. Das müssen wir als Herausforderung begreifen, um uns auch international als Europäer klar zu positionieren.

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Noch ein Projekt…
Kein wirklich neues, die EU ist ja selbst ein multilaterales Projekt. Aber natürlich brauchen wir auch ein Europa, das in der Außenpolitik grundsätzlich mit einer Stimme spricht, gerade wenn es um Probleme in unserer Nachbarschaft geht, wie in Syrien. Um hier voranzukommen, müssen wir aber wohl weg vom Einstimmigkeitsprinzip hin zum Mehrheitsprinzip kommen.

Und in der Asylpolitik?
Mit Quotenregelungen kommen wir da nicht weiter, weil das die Osteuropäer nicht wollen. Zuletzt hat der gerade neu gewählte slowakische Ministerpräsident Matovič das wieder strikt abgelehnt. Unterschiedliche Länder müssen also unterschiedliche Leistungen und Zahlungen erbringen - als alternative Lösung zur Quote. Schon 2016 wurde dieses Prinzip der „flexiblen Solidarität“ auf dem EU-Gipfel in Bratislava vorgeschlagen. Aber das ist leider versandet.

Italien hat das Virus besonders hart getroffen, jetzt fordert die italienische Regierung vehement Wiederaufbaubonds von Brüssel.
Italien hat das Virus besonders hart getroffen, jetzt fordert die italienische Regierung vehement Wiederaufbaubonds von Brüssel.
© Antonio Calanni/AP/dpa

Was sollte denn in Zukunft die große europäische Erzählung sein?
Ganz einfach: Der European Way of Life – es ist nach wie vor und trotz mancher Haken und Ösen die Geschichte der freiheitlichen Demokratie. Die Europäische Union steht auf dem Fundament einer liberalen Demokratie mit Grundprinzipien wie Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, eine freie Presse. Wir sind in der Not fähig, zum Schutze der Menschen kompetent und auch empathisch zu handeln.  

Sie sind im Krieg geboren, haben viele Krisen und Umbrüche erlebt. Hat die Coronapandemie Sie verändert oder zu einer neuen Einsicht gebracht?
Eine solch außergewöhnliche Krise habe ich mir einfach nicht vorstellen können. Auch ich lerne mit 78 Jahren täglich dazu. Meine größte Erkenntnis ist, dass der persönliche Kontakt durch nichts zu ersetzen ist. Vor allem fehlt mir die Nähe zu meinen Kindern und Enkelkindern.

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