Edmund Stoiber - und was nach Brüssel kommt: "Ich bin ein Elder Statesman"
Edmund Stoiber hat sich verändert in Brüssel. Selbst die, die über den CSU-Mann früher lachten, haben ihm im EU-Parlament applaudiert. Nun legt er sein letztes politisches Amt nieder – und sagt im Gespräch für dieses Porträt: Ich bin ein Elder Statesman.
Edmund Stoiber sitzt auf einem Berg in Wolfratshausen, sein Zuhause in Oberbayern, und ist für einen seltenen Augenblick still. Er ist nun 73 Jahre alt, und wenn man ihm nahe kommt, sieht man ihm auch an, dass er eine gehörige Strecke seines Lebenswegs zurückgelegt hat.
In einigen Tagen gibt er sein letztes aktives Amt in der Politik ab. In Brüssel. Europa wird dann ohne ihn Bürokratie abbauen. Wohin soll sein Weg nun führen?
Sein Kopf liegt jetzt schief, als wolle er in sich hineinhorchen, um Antworten zu erhalten. In dem Gesicht des Mannes, der Geschichte in der Politik geschrieben hat, allein 14 Jahre im Amt des bayerischen Ministerpräsidenten, ist plötzlich Unsicherheit zu lesen. Dann sagt er: „Natürlich fragt man sich manchmal nach so vielen Jahren der aktiven Politik: Wer bin ich jetzt?“ Pause. Stoibers Kopf ist jetzt wieder gerade. „Und ich denke, ich darf sagen: Ich bin ein Elder Statesman.“
Allein in diesen Sätzen, in dieser Szene sind alle Stoibers enthalten, die es gibt: der direkte, offensive, von sich überzeugte, der vorsichtige, stets um Etikette bemühte und der zweifelnde Edmund Stoiber. Auf jeden Fall ist da einer gewillt, mit oder ohne Amt, seiner politischen Vita ein weiteres Label anzuheften.
Am 14. Oktober übergibt Stoiber in Brüssel dem scheidenden Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso seinen Abschlussbericht zum Bürokratieabbau und später auch dem neuen Präsidenten, „meinem Freund Jean-Claude Juncker“. Und natürlich weiß Stoiber, dass es danach noch stiller um ihn werden wird.
Aber hier oben am Bergkramer Hof, auf der schönen Terrasse mit Blick auf die Alpen, ist Stoiber laut und ruhelos wie eh und je. Es ist eine sympathische, ansteckende Ruhelosigkeit, voller Leidenschaft für jede Art der politischen Debatte, eine, die Stoiber sein gesamtes politisches Leben angetrieben hat.
Stoiber muss irgendwo hin mit seiner Energie
Vor dem Gespräch mit ihm hatte einer seiner früher engsten Vertrauten, noch immer im Dienst des bayerischen Staates, am Telefon aus einer Kurznachricht Stoibers zitiert. Die SMS kam aus dem Urlaub, aber darin stand der sorgenvolle Satz: „Das deutsche Volk ist nicht vorbereitet.“ Auf die Veränderungen, auf die Krisen in Europa, Krieg und Terror in der Welt. Sinngemäß zudem: Man müsse endlich anfangen, über Außenpolitik zu streiten. Auf der Terrasse, über den Dächern von Wolfratshausen – von hier führt ein Pilgerweg bis nach Venedig –, kann man sich gut vorstellen, wie Stoiber hastig Kurznachrichten verfasst. Um sich auszutauschen, Einschätzungen aufzusaugen, Schlüsse daraus zu ziehen.
Er muss ja irgendwo hin mit seiner Energie.
Wenn er redet, muss er sich offenbar bewegen. Und so zuckt dieser noch immer schmale und große Mann mal nach hinten und mal nach vorn, zückt den Zeigefinger wie einen rauchenden Colt und hämmert mit der Faust auf den Tisch, so dass der Pflaumenkuchen auf dem Teller zittert.
Ach ja, die Sache mit dem Bürokratieabbau hat Stoiber eigentlich schon abgehakt. Es gibt jetzt andere, drängendere Dinge zu besprechen: „Ukraine-Krise, Krieg in Gaza, die neue Terrorbedrohung IS, Millionen von Flüchtlingen. Wir befinden uns in der prekärsten Situation seit der Kubakrise 1962“, sagt Stoiber und fuchtelt mit einem Arm in der Luft umher. Er redet wie ein Generalsekretär für alle Bürger, und das ist ja ein Elder Statesman in gewisser Weise auch. Er ist in Sorge, dass die Deutschen zu unpolitisch geworden sind, nicht wahrnehmen, wie sich die Welt verändert: „Wenn in Umfragen 70 Prozent der Menschen sagen, wir sollten uns aus allen internationalen Problemen raushalten, dann hat die Politik eine Aufgabe!“
Raushalten ist für Stoiber ohnehin ein Gräuel. Weil „ich ein Politisierer aus vollem Herzen bin“, wie er findet, dem die Menschen „abnehmen, was ich sage“. Ein langjähriger Freund Stoibers schmunzelt wissend, wenn man ihm von dem dreistündigen Treffen berichtet: „Er hätte ganz sicher auch Missionar werden können.“
Es gibt viele lustige Episoden über diesen eifrigen, manchmal tollpatschigen, aber immer ernsthaft um die Sache bemühten Mann, die alle einen Fehler haben: Sie stellen nur das Komische und vermeintlich Lächerliche heraus, bedienen Klischees, so, wie auch die Youtube-Videos von Stoibers legendären Versprechern und verworrenen Sätzen.
Aber um Stoiber fair beurteilen zu können und um zu verstehen, was ihn noch immer treibt, muss man ihn selbst eine Episode erzählen lassen, auch wenn sie nicht ganz neu ist: Moskau 1987. Als Staatsminister in der Staatskanzlei ist er mit Franz-Josef Strauß zu Besuch bei Michael Gorbatschow im Kreml. Der sagt, er freue sich, Strauß erstmals in seinem Land begrüßen zu dürfen. Strauß entgegnet: „Es ist das zweite Mal, das erste Mal bin ich nur bis Stalingrad gekommen.“
Stoiber, Kriegskind, nicht Kriegsteilnehmer
Aus heutiger Sicht ist das natürlich ein schier unmöglicher Satz, und nicht nur die jüngeren Generationen werden ihn als Provokation verstehen oder als missglückten Witz eines konservativen Knochens. Doch Strauß wollte Gorbatschow zu verstehen geben, dass er sehr genau um die besonderen Beziehungen beider Länder weiß. Gorbatschow, sagt Stoiber, habe es sofort verstanden. Jean-Claude Juncker hat auf eine ähnliche Symbolik gesetzt, als er meinte: „Wer an Europa zweifelt oder gar verzweifelt, der sollte Soldatenfriedhöfe besuchen.“
Stoiber, Kriegskind, nicht mehr Kriegsteilnehmer, hat verinnerlicht, dass die Europäische Union ein Bollwerk für „nie wieder Krieg“ ist, ein „Friedensbollwerk“ von höchster symbolischer Bedeutung. Er erinnert sich an einen Abend, als er mal wieder mit Helmut Kohl über den Euro stritt und der Kanzler schließlich einen Satz zu ihm sagte, den er bis heute behalten hat: Das Friedenseuropa werde irgendwann keine identitätsstiftende Erinnerung mehr sein für nachfolgende Generationen. Deshalb brauche man ein neues Symbol: den Euro.
Noch heute ist Stoiber erregt, wenn er an den Abend denkt und an die heutige unsichere Lage angesichts des Ukraine-Russland-Konflikts. Das Bollwerk, die Friedensunion, muss leben!
Am liebsten würde Stoiber es jedem Europäer persönlich sagen.
Sieben Jahre lang hat Stoiber in Brüssel Rechtsakte und Verordnungen geprüft. Doch in diesen Jahren, in denen er sich mit seiner „Hochrangigen Gruppe unabhängiger Interessenträger im Bereich Verwaltungslasten“ in die Arbeit stürzte und zur Verwunderung vieler reale Erfolge vorweisen kann, ist sein Hunger auf die große Politik noch größer geworden.
Er wird jetzt leise, es soll nicht angeberisch klingen. Vor zwei Jahren habe Wladimir Putin ihn um ein persönliches Gespräch gebeten. Damals habe der Präsident ihm anvertraut, Russland spüre den Schmerz, keine Macht mehr zu haben. Stoiber klingt wie Gerhard Schröder, nur seriöser, als er sagt: Macht sei eine Kategorie für Putin, bei uns in Europa zum Glück nicht mehr. Deshalb müsse man dennoch Kontakt halten. Um im Gespräch zu bleiben.
Stoiber hat fleißig Englisch gelernt für Brüssel
Im Frühjahr 2014 spricht Stoiber in München vor hohen Wirtschaftsvertretern zur Euro-Rettungspolitik. Als Ministerpräsident wetterte Stoiber immer wieder gegen die da in Brüssel, gegen die EU und den Euro. Jetzt sagt er den ungewöhnlichen Satz, die EU sei „doch vor allem etwas Bemerkenswertes, Kostbares, ein Stück Herzensangelegenheit“. Stille im Raum. Für solche Worte bekommt man heutzutage wenig Zuspruch. Aber Stoiber fühlt diese Worte mehr denn je. Und zudem untermauert dieser Satz von seltener politischer Wärme etwas, was Weggefährten an ihrem ehemaligen Chef selbst bemerkt haben wollen. Er hat sich verändert.
Ohnehin sei das eine seiner Stärken: sich entwickeln, korrigieren, Neues lernen. Brüssel habe Stoiber offener gemacht, er habe den engen, oft einseitigen bayerischen Blick verloren und erlebt, wie Menschen in anderen Staaten lebten. Außerdem hat Stoiber fleißig Englisch gelernt und, das ist wichtig für ihn, er hat sich auch getraut, es öffentlich zu sprechen.
Er war nicht nur in Brüssel, er war in Paris, London, Madrid und Rom. Er wurde von allen wichtigen Regierungen gehört, und selbst die Sozialisten im EU-Parlament, die anfangs über ihn gelacht hatten, haben ihm applaudiert. Wichtige Mitglieder der Stoiber-Gruppe beschreiben, was dessen früherer interner Kreis, mit dem er als Kanzlerkandidat in den Wahlkampf zog, bis heute bestätigt: Stoiber ist „ein ungeheuerlicher Antreiber, glühender Debattierer, brillanter Motivator“. Johannes Ludewig, Vorsitzender des Nationalen Normenkontrollrats und Mitglied der Gruppe, sagt: Stoiber sei der Türöffner zu allen wichtigen Politikern gewesen.
2002 haben ihm rund 6000 Stimmen gefehlt, dann wäre er Bundeskanzler geworden. Er war dicht dran, sehr viel dichter als sein Idol Strauß. Später hätte er noch vieles werden können, Kommissionspräsident, Bundespräsident, Superminister in Berlin. Immer hat er gezögert, gezweifelt und ist in Bayern geblieben. Und nun machte er diesen Bürokratieabbau-Job, letztlich ohne direkten politischen Einfluss. Ein Abstieg?
Er machte den Job, sagt ein Weggefährte aus der Staatsregierung, „weil man ihn in die Pflicht nahm, weil Barroso persönlich nach München reiste und ihn fragte“. Da gab’s keine Ausreden mehr. Stoiber ist da sehr ehrpusselig. Außerdem hat er nie seinen merkwürdig unschuldigen Glauben an die Kraft der Politik verloren – was die Kraft in seine eigene Person einschließt.
Er durfte studieren, für die Schwestern reichte das Geld nicht
Man darf nicht unterschätzen, wie sehr ihn seine Herkunft geprägt hat – seine Vita: ein permanenter Aufstieg –, aufgewachsen im kleinen Oberaudorf zwischen zwei wuchtigen Gebirgsmassiven, wo die Familie von Bastian Schweinsteiger noch immer ein Sportgeschäft betreibt. Der Vater geborener Oberpfälzer, die Mutter aus Dormagen im Rheinland. Sie waren Dazugezogene, er sieht, wie eines Tages „ein abgerissener Mann die Straße zu uns entlangschlurft“. Der Vater, Mitläufer in der NSDAP, heimgekehrt aus der Kriegsgefangenschaft. Danach ist er lange arbeitslos, trotzdem schicken die Eltern ihren Edmund und seine beiden Schwestern aufs Gymnasium. Studieren darf nur der Sohn, für die Schwestern reicht das Geld nicht.
Stoiber, der selbst drei Kinder und bald sechs Enkel hat, nennt auf der Terrasse des Bergkramer Hofes seine Kindheit eine „knappe Zeit“ und betont, dass man deshalb sehr genau wusste: „Du musst deine Chance nutzen.“ Eines Tages erklärt ihm der Vater anhand eines simplen Beispiels, wie es im Leben läuft: Er hatte sich nach dem Krieg hochgearbeitet, war Technischer Kaufmann, aber derjenige, der das Unternehmen führe, predigte er dem Sohn, „das ist der Dr.-Ing.“ – der promovierte Ingenieur. „Das ist der Unterschied.“
Diesen Satz merkt sich der Sohn gut. Er ist ihm Pflicht, Bürde und Chance zugleich. Manche haben sein Pflichtgefühl später als „gespenstisch“ charakterisiert. Es gibt von 50 Kindern im Dorf vier, die die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium machen dürfen. Zwei bestehen, einer heißt Edmund Stoiber. Als Erwachsener, nach dem Jura-Studium, will Stoiber immer den Unterschied machen – bis heute. Besser sein, erfolgreicher, nicht 99, sondern 100 Prozent geben.
Die Ruhelosigkeit ist sein Ruhekissen.
Nun kann er nur noch sein Wissen weitergeben. Und er ist schon seit langer Zeit sehr gut gebucht, in seiner CSU sowieso, der Ehrenvorsitzende. Viele in der Partei sehnen sich zurück nach ihm. Nie wieder hat sie nach seinem Abgang 2007 solche Erfolge feiern können. Nach der ersten Wahl ohne ihn musste man erstmals mit einem Partner koalieren, blieb unter 50 Prozent. Ein Trauma! Stoiber, nicht Strauß, hat Wahlen mit über 60 Prozent gewonnen. Haushalt saniert, Land reformiert, der Slogan „Laptop und Lederhose“ wird ewig mit ihm verbunden sein.
Das weiß er natürlich. Und genießt es. Den Stolz kann er nicht verbergen. Die Augen leuchten, wenn er von den „vielen Einladungen“ spricht und der „großen Zuneigung der Leute“. Und er sieht den Zustand seiner geliebten CSU, beklagt leise die außenpolitischen Defizite, vermisst die klaren Linien. Aber natürlich schweigt er dann doch lieber.
Kürzlich beim „Keferloher Montag“, einer traditionsreichen Bierzeltsause, die bis auf das Jahr 955 zurückgeht, war gut zu sehen, wie Stoiber das real ja gar nicht existierende Amt des Elder Statesman ausfüllen will – so wie alle bisherigen Ämter: mit totaler Ernsthaftigkeit. Er ruft den Kefelohern zu: „Die Politik kommt viel zu boulevardesk daher. Der Tiefgang der Probleme steht heute nicht mehr im Mittelpunkt.“ Keiner klatscht, die Gäste hatten was zum Schenkelklopfen erwartet. Stört Stoiber nicht. Am Ende seiner Rede über den Terror der IS, über die Not von Flüchtlingen im Mittelmeer, bekommen die verdutzten Zuhörer noch ein Lob von ihm: „Sie haben heute Flagge gezeigt, indem sie zu einer politischen Veranstaltung gegangen sind“, sagt Stoiber, bedankt sich und zieht zufrieden weiter.
Wer das für Stoiber’schen Humor hält, kennt ihn nicht. Ein hoher CSU-Mann sagt: „Politik ist für ihn Verantwortung, eine absolut ernste, niemals aber beliebige Sache.“ Er hat keine politischen Ämter mehr, aber die Politik, seine selbst erwählte Lebensaufgabe, wird er wie eine Fackel vor sich hertragen. Man könnte auch sagen, er selbst ist die Fackel.
Im Laufe des Gesprächs erwähnt Stoiber immer mal wieder Gerhard Schröder und Joschka Fischer. Er lobt sie mehr, als er sie kritisiert. Zu Schröder hat Stoiber bis heute ein gutes Verhältnis. Schröder und Fischer sind längst weit weg von ihren Parteien, Stoiber ist noch mittendrin. Er selbst führt nicht aus, woran das liegt, erwähnt auch nicht, dass seine einstigen politischen Hauptkonkurrenten beide sehr viel Geld mit Politikberatung verdienen, während er für seinen Job in Brüssel nichts bekommen hat. Ein Ehrenamt.
Man versteht auch so, was Stoibers Zurückhaltung meinen könnte: Fischer und Schröder haben es sich selbst versaut. Die Chance auf den Elder Statesman hat nur noch er.
Der Autor ist Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel. Er schreibt vor allem Porträts und Reportagen für die Dritte Seite und hat die lokalen Blogs von Tagesspiegel.de, etwa den Zehlendorf Blog, mit konzipiert.
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität