CDU/CSU in der Krise: Einbruch der Realität
Die große Koalition packt viel an - und erntet wenig Applaus. Kanzlerin Angela Merkel alleine reicht den Wählern nicht mehr - doch kennt niemand die Alternative. Ein Kommentar.
Sind das Zeiten! Alles, was gewiss erschien, geradezu ehern, erodiert. Dass Angela Merkel unantastbar sei, zum Beispiel. Oder dass Union und SPD Volksparteien seien. Kann man davon noch so ohne Weiteres sprechen, bei diesen Prozentsätzen, die sie nach jüngsten Umfragen noch aufbringen? Nicht ohne Weiteres.
Kaum je eine Koalition hat sich so gemüht, eine große zu sein, wie diese. Ausgestattet mit enormem Vorsprung auf die Opposition, haben Union und SPD wirklich versucht, der Verantwortung gerecht zu werden. Es ist müßig, alles aufzuzählen, was sie gemeinsam angepackt haben. Und immer noch anpacken. Staunenswerte Erfolge sind darunter – die nur niemanden mehr zu interessieren scheinen. Alles ist registriert, alles schon konsumiert. Aber den Protagonisten wird so gut wie nichts davon gutgeschrieben.
Kurzlebig sind die Zeiten, hektisch, auch nervös. Denn alles, alles wird überdeckt von der einen Frage: Wie hältst du’s mit den Flüchtlingen? Die Antwort darauf ist nur scheinbar einfach zu geben, in Wirklichkeit ist sie höchst komplex. Hier hatte die Bundeskanzlerin immer recht: Zuerst muss eine Menge zusammengedacht und gemacht werden, damit das Thema handhabbar wird. Nicht illusionär, aber stets humanitär.
Die anderen Staaten schufen Tatsachen
Nur gehört zur Wirklichkeit dieser Tage, dass sie fast schon verzerrt wahrgenommen wird. Bei Angela Merkel ist das im Übrigen auch so. Ihr erster Impuls war wunderbar menschlich. Dann warteten alle auf einen Plan. Ihr Plan ist, dass die Türkei hilft. Also alles hängt ab von Recep Tayyip Erdogan. Ist das klug? Ist das realistisch? Ist das konsequent?
In der Zwischenzeit haben andere, andere Politiker und andere Staaten, ihr das Problem abgenommen. Die anderen Staaten haben, was Merkel so doch wohl nie wollte, die Grenzen Europas dichtgemacht. Dabei profitiert sie vom drastischen Rückgang der Flüchtlingszahlen und der Politik der gesenkten Schlagbäume. Ein Teil dessen, was da zwischen ihr und dem bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Chef Horst Seehofer schiefläuft, liegt genau daran: dass die Kanzlerin so tut, als gäbe es die Veränderungen um sie herum nicht. Da ist es nicht völlig unverständlich, wenn Seehofer – der auf sie eingeredet hat wie kein Zweiter – an ihr irre wird.
So viel hat sich geändert, doch wieder verfällt die Kanzlerin in ihr altes Muster: Sie erklärt nicht. Nicht sich und nicht die Sache unter neuen Umständen. Nur diesmal fällt es auf. Und zwar zunehmend, in der Union, die aus, ja aus zwei Parteien besteht, und in der Bevölkerung. Seehofer sagt es so nicht, aber was er Merkel vorhält, ist im Grunde eine Form von Realitätsverweigerung.
Es geht nicht nur um Macht - sondern um die Union
Und es ist ja ein auch gewagtes Kalkül der Bundeskanzlerin: Halte deine Meinung nur lange genug durch, dann werden dir die Menschen schon folgen, wie sie dir bisher immer gefolgt sind – weil sie glauben, dass du es besser weißt. Ob diese Überlegung trägt? Bisher sieht es nicht so aus. Immer mehr Wähler wenden sich ab – von Merkel als Kanzlerin und von der Union als ihrer Partei.
Aber weil es dabei nicht allein um die Regierungschefin und ihre Zukunft geht, ist nicht bloß Seehofer unruhig. Die Nerven, die es braucht, um alles auf die Kraft der Suggestion zu setzen, hat beileibe nicht jeder. Auch nicht in der Union. Und erst recht nicht jeder Politiker, wenn er denn wiedergewählt werden möchte. Dutzende Abgeordnete verlören nach aktuellem Stand ihren Parlamentssitz.
Es geht allerdings nicht nur um vordergründige Machterhaltung – es geht jetzt um die Union. Kaum je stand sie schlechter da als heute. Die CDU allein liegt schon etliche Zeit weit unter 30 Prozent, Tendenz sinkend. Die CSU, die die CDU und Merkel im Bund benötigen wie Luft zum Atmen, wird ebenfalls schwächer. Zugleich fragen sich die Wähler, was sie eigentlich wählen, wenn sie sich für die Union entscheiden. Womöglich reicht Merkel als Programm allein nicht mehr.
Das wären neue Zeiten.