Reisen in Zeiten neuer Grenzkontrollen: Das Politische fährt jetzt immer mit
Urlaub planen, reisen – das fühlt sich anders an, seit es wieder Grenzzäune gibt. Die Leichtigkeit ist weg. Ein Kommentar
Eigentlich ist es eine der schönsten Fragen des Jahres. Über sie können Paare oder Familien ganze Wochenenden lang diskutieren. Wohin fahren wir im Sommer, wo machen wir Urlaub?
Es ist eine Frage, die Vorfreude auslöst, eine besondere Stimmung hervorruft, schöne Erinnerungen weckt. Sollen wir noch mal mit dem Rucksack nach Griechenland, zum Inselhüpfen, wie damals? Machen die Kinder das mit? Oder lieber mal was ganz Solides, nach Österreich zum Wandern?
Jetzt ist wieder die Zeit, in der solche Diskussionen geführt, das Internet nach Angeboten durchforstet, Reisen gebucht werden. Aber irgendwie ist es diesmal anders. Nicht so anders, dass wir nicht wegfahren wollten. Das nicht. Aber die Unbeschwertheit, die will sich nicht so recht einstellen.
Die Vorfreude hatte viel mit der Grenzenlosigkeit zu tun
Kann es sein, dass unsere positiven Urlaubsgefühle etwas mit der mittlerweile normal gewordenen Grenzenlosigkeit zu tun hatten? Mit einer Weite, die Sehnsüchte und Freiheitsgedanken beflügelte? Vielleicht hängt unser aktuelles Unbehagen bei einer Nebensächlichkeit wie der Urlaubsplanung damit zusammen, dass wir spüren: Hier ist etwas Großes in Gefahr. Hier geht es um den Kern unseres Verständnisses von Europa.
Schaut mal, sagten wir noch vor einem Jahr zu den Kindern, das war die Grenze. Ein pittoreskes Häuschen auf der Landstraße zwischen Oberbayern und Tirol, heute ist es eine Gastwirtschaft. Damals stand hier der Schlagbaum. Schlagbaum? Der 11-Jährige schaut erstaunt. Das muss man Kindern heute erklären, was das ist, eine Grenze zwischen Ländern, die doch eigentlich befreundet sind.
Aber wie lange noch? An allen Ecken zieht Europa wieder Grenzen hoch. Mauern. Stacheldraht. Ungarn ist schon dicht, Slowenien und Bulgarien bauen gerade Zäune auf. Andere osteuropäische Länder tun sich zusammen, um Flüchtlinge abzuwehren. Und jetzt die Österreicher. Der Brenner. Ein 250 Meter langer Metallzaun am Grenzübergang ist geplant. Die Pfosten stehen schon, das Metallnetz will man einsetzen, sobald die Migranten kommen. In den Pfingstferien gibt es wohl wieder Kontrollen.
Inselhopping in der Ägäis?
Man will es kaum glauben, wie die Zeit zurückgedreht wird. Erinnert sich noch jemand, wie es war, als wir auf dem Weg zum Gardasee am Brenner plötzlich einfach so durchfahren konnten? Ohne Pass, ohne Lira-Tausch in der heruntergekommenen Wechselstube. (In der Bar nebenan gab’s davor immer den ersten italienischen Cappuccino, das immerhin.) Es war der Moment, an dem Politik, dieses abstrakte Gebilde aus der „Tagesschau“, konkret wurde, unser Leben veränderte. Die abgebauten Grenzanlagen am Brenner galten als das vielleicht stärkste Symbol für den Anbruch einer neuen Zeit: Europa war weitgehend grenzenlos. Für immer, dachten wir.
Die Leichtigkeit ist weg
Und jetzt? Seitdem die Balkanroute geschlossen ist und immer neue Migranten sich auf den lebensgefährlichen Weg übers Mittelmeer machen – seit einigen Monaten also rücken uns nicht nur die innereuropäischen Grenzen wieder ins Bewusstsein. Auch der Begriff „Reisen“ bekommt eine andere Bedeutung. Was wir am Wegfahren so lieben – neugierig auf fremde Gegenden sein, unbeschwerte Tage erleben, Gastfreundschaft genießen – verliert seine Unbekümmertheit, wenn man darüber nachdenkt, was so viele Menschen bei ihrer Flucht aus der Heimat erleiden: Todesgefahr, Angst vor der Zukunft. Ein Urlaubstrip mit der Fähre durch die Ägäis nach Paros, nach Santorini – wie sorglos war das: Möchtest du noch eine Cola, gib mal das Sonnenöl rüber. Heute wüsste man: Durch dieses Meer treiben Nussschalen voller verzweifelter Menschen. Wenn sie irgendwo anlanden, erwartet sie: Stacheldraht.
Das Politische fährt jetzt immer mit
Ein Europa der durchlässigen Grenzen – wer das Schleifen dieser Errungenschaft bedauert, kann sich auf die Geschichte berufen. Denn politische Grenzen, wie wir sie heute kennen, sind historisch betrachtet etwas ziemlich Neues. Die Vorstellung, dass ein Staat sein Territorium abgrenzt und bewacht, stammt aus dem 19. Jahrhundert. Starre Begrenzungen wie die Chinesische Mauer oder der Limes, sagen Historiker, waren die absolute Ausnahme. Normal war: Grenzen verliefen fließend und wurden nicht bewacht. Pässe? Gibt es erst seit 100 Jahren.
Ein schöner Zustand war das, damals und auch heute, bis vor ein paar Monaten. Er entsprach dem Gefühl, das die meisten Menschen heute vom Zusammenleben haben: In Zeiten von Internet, Globalisierung und Erasmusstudium wirken Grenzen anachronistisch. Aber wenn wir heute darüber nachdenken, wo wir unsere Sommerferien verbringen wollen, denken wir Grenzen mit, denken an Politik, an Gefahren und Sicherheit. Türkei? Auf keinen Fall. Ägypten? Kommt nicht infrage. Ungarn? Echt nicht.
Viele Deutsche, melden die Agenturen, buchen Reisen nach Spanien. Die Bettenburgen von Torremolinos und El Arenal sind zwar der Horror. Aber immer noch besser als Terror.