Offenhalten der Grenzen 2015: Ein Untersuchungsausschuss zur Migrationskrise muss her
Der Bundestag sollte einen Ausschuss zur Migrationskrise einsetzen - um der AfD das Thema zu entwinden und Vertrauen in Europa zu gewinnen. Ein Kommentar.
In der vergangenen Woche begingen Deutschland und Europa eine Häufung von Gedenktagen. Unzählige Male versicherten deutsche Spitzenpolitiker ihren europäischen Nachbarn, die Deutschen hätten aus der Geschichte gelernt. Nun eröffnet sich unverhofft ein praktischer Anwendungsfall durch neue Erkenntnisse zur Migrationskrise, die Deutschland von vielen EU-Partnern entfremdete. Und, wie weit ist es da mit der Lernbereitschaft der Deutschen?
Internes Papier von 2015: Grenzschließung ist möglich
Interne Dokumente aus den Wochen der Kulmination der Migrationskrise 2015 zeigen: Entgegen der offiziellen Linie der Kanzlerin Angela Merkel, ihre Entscheidung sei alternativlos, wurde damals durchaus über eine Schließung der deutschen Grenzen für Asylbewerber nachgedacht. Fachleute im Verwaltungsapparat bewerteten diese Option als legal und als real sinnvoll.
Nun fordert der FDP-Vorsitzende Christian Lindner einen Untersuchungsausschuss. Doch in seltener Einmütigkeit lehnen Union, SPD und Grüne den ab. Das bringe doch nichts, zurückzuschauen, ist die Hauptargumentationslinie. Nur: Wie soll man aus Fehlern lernen, wenn die Bereitschaft fehlt, zu überprüfen, ob damals etwas falsch gelaufen ist, und, wenn ja, was genau?
Die Bundesregierung muss Führung in Europa noch üben
Der Bundestag sollte einen Untersuchungsausschuss zur Migrationskrise 2015 einsetzen. Ganz voran aus einem europapolitischen und aus einem innenpolitischen Grund. In Europa wollen und sollen die Deutschen eine Führungsaufgabe übernehmen. Sie sind das mit Abstand bevölkerungsreichste EU-Land, sie haben die mit Abstand stärkste Wirtschaft. In der Migrationskrise 2015 haben sie sich mit den meisten Partnern überworfen. Deutschland wollte in eine Richtung führen, in die andere nicht folgen wollten. Ergo müssen die Deutschen darüber nachdenken, wie sie Führung auf eine Weise ausüben, die für ihre Partner erträglich ist und im Idealfall breite Unterstützung findet. Das spricht für eine Untersuchung, die öffentliche Resonanz erzeugt.
Auch innenpolitisch ist das Nachdenken überfällig. Doch die Furcht vor der AfD führt zu dem falschen Reflex: bloß kein Untersuchungsausschuss! Denn wenn das Land offen über die Fehler des Sommers und Herbsts 2015 rede, dann bekommen Rechtspopulisten doch nur noch mehr Zulauf.
Eine Untersuchung nutzt nicht der AfD, im Gegenteil
Aber sind die Zusammenhänge nicht gerade umgekehrt? Solange die AfD glaubwürdig behaupten kann, es gebe eine Schweigekartell in der Politik, wird sie profitieren. Wenn die liberalen Parteien von Mitte-Rechts bis Mittel-Links zeigen, dass sie bereit sind, über Fehler nachzudenken und sie zu korrigieren, machen sie der AfD deren Paradethema streitig und haben gute Aussichten, es ihr zu entwinden.
Die größere Dimension hat der europapolitische Aspekt. Franzosen, Niederländer, Polen, Tschechen haben 100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs und 73 Jahre nach Ende des Zweiten keine Angst vor militärischer Dominanz Deutschlands, schon gar nicht angesichts des aktuellen Zustands der Bundeswehr. Sie spüren aber die ökonomische und politische Dominanz des Kolosses in der Mitte des Kontinents. Und haben dabei das Gefühl, dass sie die Folgen tragen, wenn Deutschland seine Energiepolitik, seinen Arbeitsmarkt und seine Sozialpolitik, seine Asyl- und Migrationspolitik ändert. Das gilt unabhängig davon, ob die Deutschen das wollen oder nicht und ob die Deutschen zur Kenntnis nehmen oder nicht, dass Entscheidungen, die sie für reine Innenpolitik halten, europaweite Konsequenzen haben. Wenn Deutschland nicht zu einem ungeliebten Hegemon werden will, muss es lernen, seine EU-Partner vor gravierenden Entscheidungen zu konsultieren und sich so mit ihnen abzusprechen, dass unbeabsichtigte negative Folgen minimiert werden.
Polens Opposition: Merkels einsame Entscheidung verhalf der PiS zur Macht
Diese Konsultationen sind 2015 unterblieben. Die heutige liberalkonservative Opposition in Polen, zum Beispiel der frühere Außenminister Radoslaw Sikorski, beklagt sich: Angela Merkel habe mit ihrer unabgesprochenen Entscheidung, die deutschen Grenzen beim Migrantenansturm offen zu lassen, die polnische Wahl entschieden und der nationalpopulistischen PiS zur Macht verholfen. Denn die konnte im Oktober 2015 mit Warnungen Wahlkampf machen, eine Million muslimische Migranten würden Europa und Polen unkontrolliert verändern.
Auch andere deutsche Alleingänge - der Atomausstieg; die deutsch-russische Gaspipeline Nord Stream 2, die gegen die Vorgaben der gemeinsamen europäischen Energiepolitik verstößt - schüren bei den Nachbarn Ängste vor einem Hegemon, der seine Vorstellungen den schwächeren Partnern aufzwingen will. Die Erwartung, die nach Deutschland geflüchteten Migranten würden per Quote zwangsweise über ganz Europa verteilt, brachte einige EU-Partner im Osten zur offenen Rebellion - und andere im Westen protestierten zwar nicht offen, verweigerten aber die praktische Kooperation wie Frankreich.
Vertrauensbildende Maßnahme
Ein Untersuchungsausschuss, der neben den Entscheidungen und Abläufen in Deutschland das Ausmaß - und den Mangel - an Absprachen mit den EU-Partnern thematisiert, wäre eine vertrauensbildende Maßnahme. Deutschland würde signalisieren: Wir hören unsere Partner. Wir ignorieren sie nicht, wenn sie in Sachfragen anderer Meinung sind.
Die Blockade des Untersuchungsausschusses durch Union, SPD und Grüne ist kurzsichtig. Sie ist auch undemokratisch. Geheim halten lassen sich Dinge, die schief gelaufen sind, ohnehin nicht auf Dauer. Die Veröffentlichung interner Papier vom Sonntag wird nicht die letzte bleiben.