Flüchtlinge in Europa: Die EU wartet auf eine Kurskorrektur durch Angela Merkel
Die Öffnung der Grenze für Flüchtlinge im August verdient Verständnis. Aber der Bruch der Rechtsordnung ist zum Dauerzustand geworden. Die Kanzlerin muss reagieren. Ein Kommentar.
Dauerhafter Rechtsbruch hat Folgen. Das bekommt die Kanzlerin in der Migrationspolitik zu spüren. Deutschland ist an den Grenzen seiner Aufnahmefähigkeit. Die europäische Lösung durch freiwillige Verteilung der Flüchtlinge auf alle EU-Staaten kommt nicht voran.
Die Türkei ist ein erratischer Partner, leidet selbst unter der hohen Zahl von Syrien-Flüchtlingen und wird nicht auf Dauer als Bollwerk herhalten. Der Winter mit den Stürmen in der Ägäis mag vorübergehend Entlastung bei der Zahl der Migranten bringen, aber nicht auf Dauer. Zudem schafft er zusätzliche Kapazitätsprobleme, einige Erstaufnahmen sind nicht winterfest.
An einer Kurskorrektur wird die Kanzlerin auch deshalb nicht vorbeikommen, weil es unter den zuständigen Beamten rumort. Sie haben einen Amtseid auf die Rechtsordnung der Bundesrepublik geschworen, spüren aber seit Monaten die unausgesprochene Erwartung, sich an deren Missachtung zu beteiligen. Hunderttausende sind in den letzten Monaten illegal eingereist. Man kennt weder ihre Zahl noch ihre Identität – was den mit der Terrorabwehr Betrauten größte Sorgen bereitet.
Was Regierung und Behörden tun müssten, kann man auf der Webseite des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge lesen: „Wenn ein Ausländer bereits einen anderen Staat erreicht hat, in dem er gleichfalls Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention erhalten kann, ist ihm die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland bereits an der Grenze zu verweigern.“ Er kann sich auch nicht auf das Asylrecht berufen. Die rechtlichen Vorgaben sind glasklar.
Die Entscheidung der Kanzlerin, in einer Extremsituation Ende August dennoch Migranten einreisen zu lassen, die sich in Ungarn in einer unerträglichen Lage befanden, verdient Verständnis und sogar Sympathie. Warum aber wurde aus der Entscheidung, die deutsche und europäische Rechtsordnung vorübergehend außer Kraft zu setzen, ein Dauerzustand? Nun fällt es der Kanzlerin schwer, die Ordnung wiederherzustellen.
Der entscheidende Schritt muss von ihr kommen. Die EU-Partner warten auf die Kurskorrektur. Die erdrückende Mehrheit von ihnen hielt die Öffnung der Grenzen von Anfang an für falsch und will sich deshalb nicht freiwillig an den Folgelasten beteiligen.
Die europäische Lösung kommt nur, wenn Deutschland die Druckverhältnisse ändert. Wenn es Grenzkontrollen einführt, werden Österreich und alle weiteren Länder auf der Transitroute dasselbe tun. Migranten, die an den EU-Außengrenzen Einlass begehren, wären dann nicht mehr eine Aufgabe allein für Deutschland, sondern für die ganze EU. In Erstaufnahmelagern dort würden sie registriert; dort würde geprüft, ob sie als Flüchtling oder Asylbewerber anzuerkennen sind.
Deutschland sei gar nicht in der Lage, seine Grenzen zu sichern und die Einreise zu kontrollieren, wird oft vorgebracht. Die Zuständigen sagen: Doch, das können wir. Ein anderer Einwand lautet: Die Öffentlichkeit werde Bilder von verzweifelten Gestrandeten an der EU-Außengrenze nicht lange ertragen. Würde es die denn lange geben?
Die Nachricht, dass Deutschland nicht mehr aufnimmt, wird sich über die sozialen Netzwerke ebenso schnell verbreiten wie damals die von der Grenzöffnung. Migranten, die heute in der Türkei oder einem Lager im Libanon sind, wägen ab, ob es lohnt, sich auf den Weg zu machen, oder nicht.