NSU-Prozess - 119. Prozesstag: Opfer zeigt menschliche Größe
Im NSU-Prozess hat der Strafsenat einen aus dem Iran stammenden, ehemaligen Lebensmittelhändler befragt. In seinem Geschäft in Köln explodierte 2001 eine Bombe der Terrorzelle. Der Zeuge beschämt mit seiner Aussage rassistische Täter.
Die Neonazis wollten die aus dem Iran stammende Familie vertreiben, das ist ihnen nicht gelungen. Doch sie haben die wirtschaftliche Existenz der Eltern ruiniert. „Nach der Explosion ist der Laden kaputt gegangen, ich hatte keine weitere Arbeit mehr“, sagt der Vater am Donnerstag im NSU-Prozess am Oberlandesgericht München. Der 62-jährige Mann, der wie seine Angehörigen in den Medien namentlich nicht genannt werden möchte, ist nun seit 2001 ohne Job. Im Januar des Jahres war in seinem Lebensmittelgeschäft in der Kölner Probsteigasse eine Bombe explodiert, die mutmaßlich Uwe Mundlos oder Uwe Böhnhardt kurz vor Weihnachten 2000 hinterlassen hatte. Der Sprengsatz war in einer Christstollendose in einem Präsentkorb versteckt, den einer der Rechtsextremen im Laden stehen gelassen hatte. Bei dem Anschlag erlitt eine Tochter des Einzelhändlers schwere Verletzungen „Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass so was passieren kann“, sagt er.
Dennoch zeigt der Vater eine menschliche Größe, die angesichts des erlebten Schreckens eigentlich nicht zu erwarten war. Er bringt die Kraft auf, im Gerichtssaal die Tat so zu bewerten, dass sie nicht als das schlimmste Unglück erscheint, das der Familie passieren konnte. Er könne „nur von Glück sprechen“, dass der Anschlag am Morgen vor der Öffnung des Geschäfts geschah, bevor wie üblich Schulkinder zum Einkaufen kamen, sagt der Vater. Und er fügt hinzu, „ich bin, in Anführungszeichen, sehr froh, dass dieser Schaden nicht andere, unbeteiligte Menschen getroffen hat, sondern nur uns“.
Mehr Empathie ist fast nicht vorstellbar
Stärker kann ein Opfer rassistische Täter kaum beschämen, auch wenn die rechte Szene das vermutlich ignorieren wird. Da nimmt ein Vater fast schon märtyrerhaft das Schicksal hin, von Ausländerfeinden gezielt mit einer Bombe attackiert worden zu sein, weil „andere, unbeteiligte Menschen“ verschont geblieben sind. Mehr Anstand, mehr Empathie sind fast nicht vorstellbar. Aber wie wirken die Worte auf die fünf Angeklagten? Den Gesichtern von Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, André E., Holger G. und Carsten S. ist nicht abzulesen, ob die Aussage des Vaters berührt oder doch kalt lässt.
Seine Erinnerung an Details der Tat ist nach mehr als 13 Jahren naturgemäß vage. Er sagt, zwei oder drei Tage vor Weihnachten 2000 sei ein junger Mann, etwa 25 bis 30 Jahre alt, in das Geschäft gekommen, mit dem Präsentkorb in der Hand. Der vermeintliche Kunde soll gesagt habe, er habe sein Geld vergessen. Dann habe er den Korb stehen gelassen und sei dann weggelaufen, sagt der Vater. Der mysteriöse Fremde soll eine hellblaue Jeans und ein weißes Hemd getragen haben, aber keine Jacke. Obwohl es Dezember war.
Der Vater berichtet auch, der Mann habe lockiges Haar gehabt, das beide Ohren bedeckt habe. Kurz darauf korrigiert er sich, es seien keine Locken gewesen, sondern „Wellen“. Andere Zeugen, die Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nach dem Gang in den Untergrund 1998 gesehen hatten, sprachen im Prozess jedoch unisono von kurzen Haaren.
Die Mutter wirkt gebrochen
Hat Mundlos oder Böhnhardt im Jahr 2000 die Haare wachsen lassen? Trug der Täter vielleicht eine Perücke? Oder hat der NSU einen Helfer geschickt? Oder ist die Erinnerung des Vaters durch den Schock getrübt, den die Explosion bei ihm ausgelöst hat? Das Phantombild des Mannes mit dem präparierten Präsentkorb, das die Polizei nach den ersten Befragungen des Vaters im Januar 2001 veröffentlichte, sah er selbst schon damals als unbrauchbar an.
Am Nachmittag sagt dann Zschäpes Verteidiger Wolfgang Stahl, weder Mundlos noch Böhnhardt könnten der Mann mit dem Präsentkorb gewesen sein. Damit ist aus Sicht des Anwalt auch der Vorwurf der Bundesanwaltschaft erschüttert, Zschäpe sei beim Bombenanschlag in der Probsteigasse wie bei den Morden und weiteren anderen Verbrechen des NSU die Mittäterin gewesen. Dass sich die Terrorzelle in ihrem Bekennervideo der Tat rühmte, könnte für Stahl auch nur eine Pose gewesen sein. „Stichwort Trittbrettfahrer“, sagt der Verteidiger.
Nach dem Anschlag wollte der Vater das Lebensmittelgeschäft trotz der Schäden weiterführen, aber die Ehefrau konnte es nicht. Sie habe nicht nur den Laden, sondern die Gegend nicht mehr betreten wollen, sagt er. Einen Vorwurf macht er seiner Frau nicht. Der Zusammenhalt ist stärker. Am Mittwoch hat die bei dem Anschlag schwer getroffene Tochter im Prozess gesagt, sie habe dank der Rückendeckung durch ihre Familie darauf verzichtet, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben. Und dass sie sich nicht aus Deutschland verjagen lasse.
Die Mutter hingegen wirkt trotz des Zusammenhalts gebrochen. Der Anschlag habe „jede Lebensfreude von mir weggenommen“, sagt sie am Donnerstag, „für ewig“. Sie habe 2001 nicht glauben können, dass Rechtsradikale sowas tun, da die Kundschaft des Ladens doch „zu 99 Prozent“ Deutsche waren. „Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Deutsche andere Deutsche umbringen könnten.“ Umso mehr war die Mutter entsetzt, als sie im November 2011 nach dem Ende des NSU erfuhr, was die Terrorzelle alles verbrochen hatte – bis hin zum Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter, einer deutschen Beamtin ohne Migrationshintergrund. „Der psychische Schaden, der mich getroffen hat . . .“, sagt die Mutter und stockt. Dann setzt sie wieder an, „mir wäre lieber, dass ich tot wäre, aber meine Kinder . . .“.