„Eine Zwangs-App darf es nicht geben“: Ein Richter erklärt, wie die Corona-App aussehen müsste
Zur Bekämpfung des Corona-Virus wird stark über Handy-Tracking diskutiert. Der Richter Ulf Buermeyer sagt: Der Datenschutz muss nicht auf der Strecke bleiben.
Herr Buermeyer, vor einigen Monaten wäre das noch unvorstellbar gewesen, jetzt hielte es jeder zweite Deutsche für sinnvoll, wenn Kontaktpersonen von Infizierten über Handy-Daten geortet werden. Halten Sie es für bedenklich, dass die Deutschen in dem Maße bereit sind, in der Corona-Krise Eingriffe in ihre Grundrechte zuzulassen?
Nicht unbedingt. Die Menschen machen offenbar eine Abwägung und sagen: Wenn wir wirklich Menschenleben retten können, dann sind bestimmte Eingriffe in die Privatsphäre durchaus gerechtfertigt. Das halte ich für nachvollziehbar. Die Frage ist aber: Um welche Eingriffe geht es? Sind sie erforderlich oder auch nur geeignet, die Ausbreitung des Virus zu verhindern? Funkzellen-Daten bei den Telekommunikationsanbietern abzufragen, wie es Gesundheitsminister Spahn zwischenzeitlich vorschwebte, ist völlig unsinnig.
Warum?
Weil Funkzellen-Daten extrem ungenau sind. Sie werden zwar bei der Aufklärung von Verbrechen eingesetzt, Funkzellen umfassen aber eine Fläche von mehreren tausend Quadratmetern. Ein erhöhtes Ansteckungsrisiko besteht aber Virologen zufolge erst, wenn man sich für einige Minuten in einem Abstand von 1,5 bis zwei Metern zu einer infizierten Person aufgehalten hat. Es braucht also eine extreme Nähe.
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Um das festzustellen, ist selbst GPS zu ungenau. Ich halte es aber für vorbildlich, dass der Gesundheitsminister sofort auf die massive Kritik reagiert und den entsprechenden Passus in seinem Gesetzesvorschlag gestrichen hat. Dieser hätte quasi einen Blankoscheck zum Einsatz „technischer Mittel“ zur Ermittlung von Kontaktpersonen enthalten, der verfassungsrechtlich sehr bedenklich gewesen wäre.
Was halten Sie stattdessen für sinnvoll?
Sinnvoll wäre eine App, die so ähnlich funktioniert wie die, die in Singapur im Einsatz ist. Das Wichtige: Es wird keine massive Datenbank mit Nutzerdaten aufgebaut, die Daten liegen größtenteils auf den Endgeräten der Nutzer, die Nutzung der App muss freiwillig sein. Eine Zwangs-App darf es nicht geben.
Sinnvoll wäre, wenn die App über die Technologie Bluetooth Low Energy feststellt, welche Handys sich über mehrere Minuten in unmittelbarer Nähe befinden. Das funktioniert relativ zuverlässig, da Bluetooth ohnehin nur eine geringe Reichweite hat. Auf dem Handy des Nutzers würde eine temporäre ID dieser anderen Geräte verschlüsselt gespeichert – aber nicht deren Handynummer.
Und wenn sich jemand infiziert hat?
Dann wird die infizierte Person gebeten, der Verarbeitung dieser verschlüsselten Daten auf ihrem Handy zuzustimmen. So könnten die anonymen IDs der Kontaktpersonen ausgelesen werden. Über einen Server würden die ermittelten Kontaktpersonen eine Push-Nachricht bekommen, in der sie gebeten werden, sich in Quarantäne zu begeben und sich einem Corona-Test zu unterziehen.
Die Identität und die Handynummer der Kontaktpersonen wäre dabei nicht feststellbar – anders als offenbar bei der App in Singapur. Daher wären Zwangsmaßnahmen aufgrund der App-Daten in Deutschland nicht möglich – sowohl die Nutzung als auch die Quarantäne bliebe freiwillig. Das Ziel: Infizierte Personen könnten dann schon in einer Phase alarmiert werden, in der sie sich noch nicht krank fühlen, aber bereits andere anstecken können.
Und wenn das so ausgestaltet wäre, hätten Sie aus verfassungsrechtlicher Sicht keine Bedenken?
Das ist – wenn überhaupt - ein sehr milder Eingriff in die Grundrechte. Es handelt sich ja wie gesagt um eine freiwillige App, die Menschen warnen kann und sie bittet, sich in Quarantäne zu begeben. Gleichzeitig könnte so eine App Leben retten. Und sie hat möglicherweise den Vorteil, dass die strengen Kontaktbeschränkungen, die wir derzeit erleben, etwas gelockert werden könnten.
Als Vorbild in Sachen Corona-Bekämpfung wird auch immer wieder Südkorea genannt. Zurecht?
Aus meiner Sicht ist es irreführend, Südkorea als Vorbild hinzustellen. Was wir dort beobachten, ist eine Verknüpfung vieler verschiedener Datenquellen – über Mobilfunkdaten hinaus. Dort wurden auch Kreditkartendaten und Aufnahmen von Überwachungskameras hinzugezogen, um Kontaktpersonen von Infizierten zu ermitteln. Das ist eine extreme Detektivarbeit, die stark in die Privatsphäre eingreift, und gleichzeitig viel weniger genau ist als das von mir beschriebene Tracking über Bluetooth.
Um die Verbreitung des Corona-Virus einzudämmen, herrscht in Deutschland derzeit Kontaktverbot, auch Ausgangsbeschränkungen. Ist das aus Ihrer Sicht verfassungsrechtlich unbedenklich?
Ich finde es bedauerlich, dass Jens Spahn es bei der Änderung des Infektionsschutzgesetzes versäumt hat, eine klare Rechtsgrundlage für Ausgangsbeschränkungen zu schaffen. Ich hätte mir eine Festlegung gewünscht, unter welchen Voraussetzungen es gegen wen Ausgangsbeschränkungen geben kann. Derzeit kocht da jedes Land sein eigenes Süppchen – und nicht immer sind die Regeln überzeugend: Warum darf man beispielsweise in Berlin nicht alleine längere Zeit auf einer Parkbank sitzen? Das erschließt sich nicht.
Es wird immer wieder die Sorge laut, die Deutschen würden die Einschränkung ihrer Freiheiten in dieser Krise zu leichtfertig hinnehmen. Was ist Ihr Eindruck?
Wir haben es mit einigen Grundrechtseinschränkungen zu tun, die sehr weitgehend sind. Aber die Zivilgesellschaft ist sehr wach. Sie beobachtet sehr genau, was da passiert. Die Akzeptanz für die Maßnahmen ist daran geknüpft, dass wir es mit einer historischen Ausnahmesituation zu tun haben. Die Menschen haben großes Vertrauen zur Bundesregierung. Aber es würde auf massiven Widerstand stoßen, wenn jetzt irgendwer versuchen würde, diese Maßnahmen in den Normalbetrieb zu überführen. Zum Glück will das – soweit wir bisher sehen – auch niemand.
Ulf Buermeyer ist Richter am Landgericht Berlin. Derzeit ist er abgeordnet an die Berliner Senatsverwaltung für Justiz, wo er das Funkzellenabfragen-Transparenz-Systems des Landes Berlin entwickelt. Buermeyerist zudem ehrenamtlicher Vorsitzender der Gesellschaft für Freiheitsrechte. Der Verein setzt sich mit strategischen Klagen für den Erhalt von Freiheitsrechten ein.
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