Papier des Innenministeriums: Strategie nach dem Shutdown: Testen, Testen, Testen
Die Regierung erwägt eine Lockerung der Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie. Wie sieht die neue Strategie aus?
- Ragnar Vogt
- Georg Ismar
- Ingo Bach
Die Kurve abflachen, irgendwie. „Noch ist das die Ruhe vor dem Sturm“, hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) gesagt. Die nächsten Tagen sind wichtig, um zu entscheiden, ob der gegenwärtige Shutdown in Deutschland ab dem 20. April etwas gelockert werden kann. Auch im Kanzleramt ist es dieser Tage ruhig, die Kanzlerin konferiert von der häuslichen Quarantäne aus. Wer da ist und beim morgendlichen Blick auf seinen gefüllten Terminkalender leicht aufstöhnt, ist Kanzleramtschef Helge Braun. Neben der medizinischen und ökonomischen Bekämpfung der Coronaviruskrise, muss er eine Antwort auf die Frage aller Fragen finden – wie kann das Land nach dem Runterfahren wieder hochgefahren werden.
Was plant die Regierung?
Die aktuellen Einschränkungen dienen dem Ziel, die Ausbreitung zu verlangsamen, damit alle Intensivpatienten anders als in Italien gut behandelt werden können. Die Zahl der Intensivbetten in Deutschland soll parallel von 28 000 auf über 50 000 verdoppelt werden. Die oberste Prämisse für die Zukunft soll lauten: Testen, Testen, Testen. Spahn betont, die aktuelle Kapazität liege bereits bei 300 000 bis 500 000 Tests pro Woche. In einem Strategiepapier des Bundesinnenministeriums wird das Ziel von 200 000 Tests pro Tag ausgegeben, also mehr als eine Million Tests pro Woche – darüber hatten als erstes „Süddeutsche Zeitung“, NDR und WDR berichtet. Die „jüngsten internationalen und heimischen Erfahrungen“ zeigen, dass die schnelle Verfügbarkeit von Tests wesentlich für die Eindämmung sowie für die zeitnahe Behandlung von Patienten sei, heißt es auch in einem Beschluss, den der Kanzleramtschef Helge Braun und die Chefs der Staats- und Senatskanzleien der 16 Bundesländer gefasst haben. Hoffnungen ruhen dabei auf dem verstärkten Einsatz von Test-Automaten, wie denen des Schweizer Pharmakonzerns Roche. Und zum anderen auf der Einbeziehung weiterer Labore, auch aus dem Bereich der Veterinärmedizin. Für die Labore und Forschungseinrichtungen wird nach Hochdurchsatzgeräten, gefahndet, die Tausende von Tests an einem Tag machen können. Zudem ruhen große Hoffnungen in Tests, die schon bald verlässlich nachweisen können, wer schon mit Corona infiziert war und es vielleicht gar nicht gemerkt hat. Diese Bürger könnten bereits immunisiert sein. Wenn auf diese Weise ein klareres Bild gewonnen wird, wie groß die tatsächliche Zahl der bereits Infizierten und Immunisierten ist, fällt es leichter zu entscheiden, in welchem Maße das öffentliche Leben wieder hochgefahren werden kann.
Warum ist das Testen so wichtig?
In den im europäischen Vergleich auch schon bisherigen vielen Tests wird eine Erklärung dafür gesehen, dass Deutschland eine so niedrige Sterblichkeit bei Covid-19 hat. Hierzulande würden sehr viel mehr Krankheitsfälle diagnostiziert, in Ländern mit höherer Mortalität gebe es sehr viel mehr unerkannte Infektionen, argumentieren Epidemologen. Bisher kümmern sich Labore von Universitätskliniken, Gesundheitsämter und von Vertragsärzte um die Tests – und da ist bereits laut Robert-Koch-Institut ein massiver Ausbau erfolgt. Wurden in der vorletzten Woche noch 127 457 Tests in 114 Laboren gemacht, so waren es in der letzten Woche bereits 348 619 Tests in 176 Laboren – das ist fast eine Verdreifachung innerhalb einer Woche. Diese Kapazität müsste noch einmal verdreifacht werden, um auf die vom Innenministeriums-Papier geforderten 200 000 Tests pro Tag zu kommen.
Wie können 200 000 Tests pro Tag gelingen?
Zum einen müssen die bestehenden Labore ihre Kapazitäten noch weiter aufstocken. Das ist nicht nur eine Frage der Geräte, es muss vor allem zusätzlich hochqualifiziertes Personal dafür bereitgestellt werden. Zudem muss auch die Anzahl der Testlabore erhöht werden. Und es sollen nun auch verstärkt tiermedizinische Labore in die Testung einsteigen sollten. Hier gibt es großes Potential: Laut Siegfried Moder, Chef des Bundesverbandes praktizierender Tierärzte, könnten schnell mindestens 70 000 weitere Tests wöchentlich in solchen Laboren durchgeführt werden. „Wir sind dazu bereit, denn es geht darum, Menschenleben zu retten“, sagte Moder dem Tagesspiegel. Mittelfristig könne die Zahl noch deutlich darüber liegen. Ein Anfang sei schon gemacht, sagt Moder: In einem tiermedizinischen Labor in Bayern seien bereits 200 Tests erfolgt. Um in diesen Laboren Kapazitäten freizubekommen, müsste auch über eine Lockerung der veterinärmedizinischen Auflagen für Vieh in der Landwirtschaft gesprochen werden. Zum Beispiel könnte der Test auf die Blauzungenkrankheit bei Kälbern ausgesetzt werden, damit würden schnell einige Kapazitäten frei. Zudem sollen auch Labore der Pharmaindustrie genutzt werden. Dafür würden bereits Gespräche zwischen Bund, Ländern und der Industrie laufen, sagte ein Sprecher des Verbandes der forschenden Pharmaunternehmen. Man verfüge dort über hochmoderne Anlagen, um solche Tests durchzuführen.
Warum ist Südkorea so ein großes Vorbild?
Der erste mit dem Coronavirus infizierte Patient wurde in Südkorea bereits am 20. Januar registriert, eine aus China eingereiste Frau. Danach stieg die Zahl der Infizierten zunächst sehr langsam an. Doch ab Ende Februar schossen die Zahlen in die Höhe. Binnen weniger Tage wurde das Land nach China der zweite „Hotspot” für Infektionen mit dem neuen Virus. Doch statt auf allgemeine Ausgangssperren setzte das Land darauf, möglichst viele Personen auf das Virus zu testen und die so früh entdeckten Infizierten und deren Kontaktpersonen konsequent zu isolieren. In Südkorea, dessen Bevölkerung 51 Millionen Menschen zählt, werden pro Tag bis zu 20 000 Tests durchgeführt. Getestet wird dort auch in 50 Drive-thrus: Hier können Personen sich in ihrem Auto kostenlos testen lassen. Die Testraten lagen dadurch im Vergleich zur Bevölkerungszahl deutlich höher als anfangs in Deutschland. Im Gegensatz zur bisherigen Praxis in Deutschland werden in Südkorea auch symptomfreie Menschen getestet. Mit der Strategie der frühen Entdeckung von Infektionen und der Isolierung der Betroffenen erreichte Südkorea, dass sich die Kurve der Infektionen stark abflachte: Auf weniger als 100 gemeldete Neuinfektionen pro Tag und 9932 bestätigte Infektionen insgesamt. Insgesamt hat sich dort die Zeit bei der Verdopplung der Infektionszahlen auf 80 Tage verlängert, die Ausbreitung des Virus ist im Griff. Auch setzt Südkorea auf Daten-Tracking, mit dem man erfahren kann, ob man Kontakt mit Infizierten gehabt hatte.
Kann ein Daten-Tracking auch in Deutschland kommen?
Ja, auch das Team von Kanzleramtschef Braun arbeitet an einer App, die aber nur Erfolg haben würde, wenn sie möglichst viele – und das ist wichtig: freiwillig – herunterladen. So könnten alle Kontakte, die einem näher als zwei Meter gekommen sind, registriert werden. Hat ein App-Nutzer das Virus, wüsste man automatisch, wie viele Kontakte es gibt, die auch getestet werden sollten. Eine automatische Nutzung von digitalen Daten soll es nicht geben – hierzu wären auch Gesetzesreformen notwendig, was zu lange dauern würde.
Gibt es schon eine klare Exit-Strategie?
Ja. Viel gelesen wird derzeit in den Behörden der Fachartikel „The Hammer and the Dance“ des Verhaltensforschers Tomas Pueyo. Dieses Szenario wird nun auch in Deutschland angestrebt. „Je früher man schwere Maßnahmen verhängt, desto weniger Zeit braucht man, um sie aufrechtzuerhalten, desto leichter ist es, unerkannte Fälle zu identifizieren, und desto weniger Menschen werden infiziert“, schreibt Pueyo. Mit Ausgangsbeschränkungen, Geschäfts-, Schul- und Kitaschließungen wird quasi mit der Holzhammermethode die Ausbreitung eingedämmt. Daraufhin könnte in einigen Wochen die Tanzphase folgen, man wagt sich mit dem Öffnen von Kitas und Schulen sowie vielleicht Restaurants und Geschäften auf das Parkett, setzt aber weiterhin auf Abstandsregelungen und Sondervorschriften. Parallel soll weiter viel getestet werden, Kontakte von Infizierten konsequent nachverfolgt und isoliert werden. Gehen die Zahlen weiter zurück, können weitere Schritte folgen. Sollte die Ausbreitung aber nicht eingedämmt werden können, könnten auch wieder drastische Maßnahmen drohen. Aber angesichts ökonomischer Verwerfungen, drohender Pleitewellen und steigender Arbeitslosenzahlen, und der vielleicht nicht ausreichenden Neuverschuldung von 156 Milliarden Euro, wächst der Druck, den Hammer schnell wieder einzupacken.
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