Großmächte-Ringen um den Balkan: Ein Pulverfass für den Sieger
Wo bleibt die deutsche Außenpolitik? Berlin muss die Kriegsgefahr dämpfen und die Region stabilisieren, ohne die EU-Aufnahme zu versprechen. Ein Kommentar.
Es ist die Schlüsselfrage für Deutschland wie für Europa: Wer wird die größte Volkswirtschaft der EU regieren und in welcher Koalition, Ampel oder Jamaika?
Nun durchbricht ein Alarmruf das Themenmonopol: Kriegsgefahr zwischen Serbien und Kosovo. Sie zeigt, warum die Regierungsbildung in Berlin so dringlich ist.
Die Welt wartet nicht, der Balkan hat den Beinamen „Pulverfass“ zu Recht. Für eine Macht vom Gewicht Deutschlands gibt es keine Auszeit von der Weltpolitik in Wahlzeiten.
Der EU fehlt eine realistische Strategie zur Stabilisierung der Region. Die rasche Aufnahme der Westbalkanstaaten ist eine Illusion.
Russen besuchen Militärbasen, China spendet Impfungen
Während Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Region bereist, besucht der russische Botschafter mit Serbiens Verteidigungsminister Militärbasen. Es geht also nicht nur um Scharmützel zwischen Kleinstaaten. Da ringen globale Player um Einfluss: die EU, Russland und China, das seit Jahren kräftig in die Infrastruktur Südosteuropas investiert und mit Corona-Impfungen Diplomatie betreibt.
Der Balkan zieht die Großmächte an und schreckt sie zugleich ab. Die Rivalitäten um die 1500 Kilometer lange Landbrücke zwischen Orient und Okzident hat Imperien wie das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie ausgelöscht. Wer sich dort einmischt, riskiert viel.
Und doch können die Großmächte vom Balkan nicht lassen. Ob Migration, Handel oder Verkehrsachsen: In den strategischen Konzepten – Chinas Seidenstraße, Russlands Einfluss auf den Mittelmeerraum, Erweiterungspläne der EU – hat das Bindeglied zwischen Bosporus und Zentraleuropa eine zentrale Rolle.
Wettlauf mit konstruktiven und destruktiven Seiten
Dieser Wettbewerb hat eine konstruktive und eine destruktive Seite. Die Supermächte bieten sich als attraktive Partner an, investieren in politische Allianzen und Infrastruktur, um einen dominierenden Einfluss auf Albanien, Kosovo, Bosnien, Montenegro, Serbien, Nordmazedonien zu gewinnen.
Zugleich wollen sie verhindern, dass die Rivalen einen uneinholbaren Vorteil erzielen und nutzen die schwelenden Konflikte und die Rachegelüste aus früheren Kriegen. Die hat der Balkan im Überfluss zu bieten, etwa zwischen orthodoxen Serben, muslimischen Kosovaren oder Bosniaken und katholischen Kroaten. Sie haben auch die Kriege beim Zerfall Jugoslawiens in den 1990er Jahren befeuert.
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Was kann die EU tun, was muss sie vermeiden? Die Mitglieder in Ost- und Südosteuropa fordern die rasche Erweiterung auf den Westbalkan in der Hoffnung, Chinas und Russlands Einfluss auszuhebeln. Slowenien, das die EU-Ratspräsidentschaft innehat, lädt zu einem EU-Gipfel mit diesem Ziel in der kommenden Woche.
Mit einer raschen Erweiterung begeht die EU Selbstmord
Doch damit beginge die EU Selbstmord. Sie muss ihre Entscheidungsmechanismen radikal reformieren und das Konsensprinzip in zentralen Fragen überwinden, ehe neue Mitglieder beitreten. Oder will sie riskieren, dass ein Zwergstaat wie Montenegro, wo man sich die Regierung mit ein paar Millionen Euro kaufen kann, die Macht hat, die Gemeinschaftspolitik zu blockieren?
Emmanuel Macron hat mit seiner Erweiterungsskepsis Recht. Was aber ist die Alternative? Da liegt die Verantwortung Deutschlands. Angela Merkel hat die Balkanstaaten eben noch besucht. Berlin, sagten die Gastgeber, sei für sie der Schlüssel auf dem Weg nach Brüssel.
Die Bundesregierung muss diesen Mittelweg zwischen den Aufnahmeforderungen der EU-Partner im Osten und den Aufschiebewünschen der Partner im Westen nun zügig mit Frankreich ausbuchstabieren. Die EU hat die Ressourcen, um mit smarten Initiativen und Investitionen den dominierenden Einfluss auf die strategische Region zu behalten, ohne dabei die Selbstzerstörung zu riskieren.