zum Hauptinhalt
Long Covid wird die Zahl der ME/CFS-Patienten noch weiter erhöhen.
© Lea Aring

Long Covid und ME/CFS im Koalitionsvertrag: „Ein historischer Erfolg für die Erkrankten“

Das Chronische Fatigue Syndrom wird erstmals im Koalitionsvertrag erwähnt – endlich soll geforscht werden. Ein Lichtblick für 250.000 Erkrankte in Deutschland.

Es ist nur ein kleiner Abschnitt im neuen Koalitionsvertrag, aber mit größter Wirkung für knapp 250.000 Erkrankte in Deutschland. Ein Satz, der hoffen lässt: „Zur weiteren Erforschung und Sicherstellung einer bedarfsgerechten Versorgung rund um die Langzeitfolgen von Covid19 sowie für das chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS) schaffen wir ein deutschlandweites Netzwerk von Kompetenzzentren und interdisziplinären Ambulanzen.“

Ende der 60er Jahre wurde die Krankheit Myalgische Enzephalomyelitis (ME), auch bekannt als das Chronische Fatigue Syndrom (CFS), von der WHO offiziell eingestuft. Geforscht wurde seitdem aber kaum. Selbst Ärzte kennen die Krankheit teilweise nicht einmal.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Dabei ist die Liste an Symptomen lang: ME/CFS-Erkrankte leiden unter Konzentrations- und Gedächtnisschwäche, Kreislaufstörungen, unter ständigen Schmerzen und schwerer Erschöpfung. Einige können sich nur noch im Rollstuhl fortbewegen, andere sind sogar komplett bettlägerig.

ME/CFS auch als Folge von Corona

Carmen Scheibenbogen leitet das Fatigue Centrum der Berliner Charité und behandelt bereits seit vielen Jahren Menschen mit ME/CFS. „Es ist eine komplexe neurologische Erkrankung, die häufig durch einen Infekt ausgelöst wird“, erklärt die Medizinerin.

Bei zwei Drittel der Patienten sind demnach das Epstein-Barr-Virus, das Pfeiffersche Drüsenfieber, eine Grippe oder eine Magen-Darm-Infektion Auslöser der Krankheit. Doch „auch in Folge von Covid-19 erkranken gerade jüngere Menschen an ME/CFS“, so Scheibenbogen.

Carmen Scheibenbogen.
Carmen Scheibenbogen.
© Privat

Bei anderen Patienten könne auch eine Verletzung der Halswirbelsäule oder eine schwere psychische Belastung der Beginn der Erkrankung sein. Charakteristisch für ME/CFS sei die nach einer leichten Anstrengung auftretende Verschlechterung am nächsten Tag, die sogenannte Postexertionelle Malaise (PEM).

ME/CFS und Long Covid im Koalitionsvertrag

„Dass ME/CFS und Long Covid im Koalitionsvertrag explizit thematisiert werden, ist ein historischer Erfolg für die Erkrankten“, sagte Daniel Hattesohl, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS, vergangene Woche. Carmen Scheibenbogen sagte gegenüber dem Tagesspiegel, dass es nun endlich Hoffnung gebe, „dass die bislang völlig unzureichende Versorgungsstruktur für die Patienten verbessert wird“.

Auch Marina Weisband äußerte sich bei Twitter als „sehr glücklich“ und sprach vom Verdienst aller ME/CFS-Patienten, die über Jahre gekämpft haben. Die Grünen-Politikerin machte im Oktober öffentlich, dass sie selbst an ME/CFS erkrankt ist.

[Lesen Sie dazu auch auf tagesspiegel.de: Marina Weisband lebt mit dem Chronischen Fatigue-Syndrom - „Die häufigste Todesursache der Krankheit ist Suizid“ (T+)]

Laut Daniel Hattesohl sei nun ein zügiger Aufbau der Zentren und Ambulanzen nötig, und zwar „unter enger Beratung der Erkrankten“ sowie mit den führenden deutschen Expertinnen für beide Krankheitsbilder: Carmen Scheibenbogen von der Berliner Charité und Uta Behrends von der TU München.

Mechanismus der Erkrankung ungeklärt – was passiert bei ME/CFS?

Denn bisher ist der genaue Mechanismus der Erkrankung nicht geklärt. „In Folge einer Infektion kommt es zu einer starken Aktivierung des Immunsystems. Vieles spricht dafür, dass Autoantikörper gegen Stressrezeptoren zu einer Fehlsteuerung des autonomen Nervensystems führen, was die vielfältigen Symptome gut erklären kann“, erläutert Scheibenbogen.

Die im Koalitionsvertrag angekündigte Forschungsförderung könnte es nun ermöglichen, „die Mechanismen so weit zu klären, dass klinische Medikamentenstudien durchgeführt werden können“, so Scheibenbogen. Ein wichtiger Schritt, auf den tausende Patienten seit Jahren warten.

Denn aufgrund der mangelnden Kenntnis über die Krankheit, wird sie auch oft falsch behandelt. "Es gibt bisher keine Therapien. Auch eine Reha kann die zugrundeliegende Erkrankung nicht heilen“, sagt Claudia Ellert, Leitende Oberärztin aus Wetzlar.

Wie diagnostiziert man ME/CFS?

Mit der Organisation Long Covid Deutschland und der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS setzt sich Ellert für die Umsetzung konkreter Maßnahmen ein und fordert von der Bundesregierung „die Einrichtung einer gezielten Förderrichtlinie zur zeitnahen Erprobung von biomedizinischen Therapieverfahren sowohl für Long Covid als auch für ME/CFS“.

Zudem solle die klinische Forschung zum Thema besser koordiniert und insbesondere die Therapieentwicklung zentral gesteuert und unterstützt werden, so Ellert. Denn ME/CFS wird über klinische Symptome definiert, erklärt Scheibenbogen genauer: „Für die Diagnostik gibt es die Kanadischen Konsensuskriterien, die auf der Website des Charité Fatigue Centrums zu finden sind. Meistens besteht auch eine Muskelschwäche, die über einen Handkrafttest gemessen werden kann. Bei Schwindel zeigt sich oft eine Kreislaufstörung mit erhöhtem Puls im Stehen.“

[Jetzt noch mehr wissen: Mit Tagesspiegel Plus können Sie viele weitere spannende Geschichten, Service- und Hintergrundberichte lesen. 30 Tage kostenlos ausprobieren: Hier erfahren Sie mehr und hier kommen Sie direkt zu allen Artikeln.]

Dass die Krankheit ME/CFS nun auch die Politik erreicht, zeigte Mitte November die von vier Patienten gestartete Petition SIGNforMECFS. Ziel war es, eine öffentliche Anhörung im Deutschen Bundestag zu bekommen, nötig waren dafür 50.000 Unterschriften. Doch die Petition erreicht sogar fast das Doppelte: 93.033 Unterschriften kamen zusammen.

Wie behandelt man ME/CFS?

„Wir brauchen ein neues Verständnis in Bezug auf ME/CFS in der Politik, Medizin, Forschung und in der Öffentlichkeit“, sagt Sonja Kohl vom Petitionsteam. Es seien viele Veränderungen notwendig, damit Patienten davon profitieren könnten. „Um dies zu erreichen., braucht es auf allen Ebenen eine kontinuierliche Beharrlichkeit. Dafür benötigen wir einen starken Rückhalt in der Politik“, so Kohl.

Von diesem nötigen Rückhalt spricht auch Maria Klein-Schmeink (Bündnis 90 / Die Grünen): „Die Versorgungslage für Menschen mit ME/CFS ist seit Jahren prekär. Es gibt bis auf ganz wenige Ausnahmen keine spezialisierten Angebote und vielfach mangelt es am nötigen Fachwissen.“ Es sei höchste Zeit, dass hier politisch gehandelt werde.

Klein-Schmeink sei froh, dass mit den Koalitionspartnern vereinbart wurde, endlich zu handeln, da Betroffene nicht länger allein gelassen werden dürften. „Jetzt geht es darum, die verlorene Zeit wieder gutzumachen und möglichst zügig ein flächendeckendes Versorgungsangebot zu schaffen und in die Forschung zu investieren.“

Die Details dafür werde man in den kommenden Monaten mit der/dem neuen Gesundheitsminister:in erarbeiten, „im Koalitionsvertrag ging es ja nur um die großen politischen Linien“, so Klein-Schmeink. Laut Carmen Scheibenbogen ziele die derzeitige Behandlung vor allem darauf ab, Symptome zu verbessern.

Zudem helfe das sogenannte "Pacing", das Vermeiden von Stress und Überanstrengung, da dies zu einer Verschlechterung führen könne. An der Berliner Charité „gibt es jetzt auch eine Versorgungsstudie, an der Versicherte der BKK teilnehmen können“, freut sich Scheibenbogen.

Zur Startseite