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Immer mehr Menschen leiden unter ME/CFS. Auch das Coronavirus kann die Erkrankung auslösen.
© Shutterstock / Stokkete

Chronisches Fatigue Syndrom: 100.000 Erkrankte mehr aufgrund von Covid-19

Ca. 250.000 Menschen leiden in Deutschland am Chronischen Fatigue Syndrom. Covid-19 verschlimmert die Situation und treibt die Zahl weiter in die Höhe.

Dreißig Grad zeigt das Thermometer am Dienstagnachmittag in Berlin an. Laut RKI haben sich seit Pandemiebeginn bis zu diesem Tag in Deutschland 3.533.376 Menschen nachweislich mit dem Coronavirus infiziert. Viele von ihnen sind genesen und genießen nun die Sonnenstrahlen. Viele andere jedoch sind weiterhin krank und liegen geschwächt zu Hause in ihren Betten.

Eine lähmende Erschöpfung, Kopfschmerzen und Konzentrationsstörungen – das sind nur einige von vielen Symptomen, unter denen sogenannte Long Covid Patienten noch Wochen oder Monate nach ihrer Erkrankung leiden. Und plötzlich rückt eine Gruppe von Menschen in den Fokus, die diese Symptome schon hatte, als noch keiner von Corona oder gar einer Pandemie sprach.

Die Gruppe jener Menschen, die seit Jahrzehnten nahezu vergessen und unsichtbar ist. Jene Menschen, die schon lange vor Covid-19 in heimischer Isolation lebten: Es sind die, die unter Myalgischer Enzephalomyelitis (ME) leiden, auch bekannt als das Chronische Fatigue Syndrom (CFS).

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ME/CFS ist eine schwere chronische Krankheit, die meist durch eine Virusinfektion ausgelöst wird und zu extremer Erschöpfung und ständigen Schmerzen führt. Konzentrations- und Gedächtnisschwäche sowie Kreislaufstörungen bis hin zu Atembeschwerden können zu kompletter Bettlägerigkeit führen. Lange mangelte es am Bewusstsein für das Krankheitsbild. Die Pandemie schärft jedoch jetzt den Blick dafür.

Long Covid offenbart jahrelange ME/CFS Ignoranz

Claudia Schreiner ist Sprecherin der Initiative #MillionsMissing Deutschland, die seit 2018 politisch und mit Protestaktionen für eine gleichwertige Versorgung ME/CFS-Erkrankter eintritt. Die Berlinerin sagt, ME/CFS-Patienten würden durch die Erkrankung aus der Gesellschaft verschwinden und müssten über Jahrzehnte in unfreiwilliger Isolation leben.

Claudia weiß, wovon sie redet. Sie ist selbst seit vielen Jahren von der tückischen Krankheit betroffen. Erkrankte wie sie „wollen wieder an der Gesellschaft teilhaben und benötigen dafür medizinische und soziale Versorgung sowie biomedizinische Forschung“.

Proteste in Berlin am Internationalen Tag für ME/CFS. 2019 ohne Corona noch möglich.
Proteste in Berlin am Internationalen Tag für ME/CFS. 2019 ohne Corona noch möglich.
© MillionsMissing Deutschland

Zum Internationalen ME/CFS-Tag am 12. Mai schreiben im Rahmen einer Protestaktion Erkrankte sowie Betroffene, die unter Langzeitfolgen einer Covid-19-Infektion leiden, gemeinsam Postkarten. Sie fordern die Präsident:innen der Landesparlamente auf, die Versorgungskrise anzugehen. 

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Torben Elbers von der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS begrüßt solche Protestaktionen. Öffentlicher Druck sei die einzige Möglichkeit, „die Lage zu verbessern, weil in großen Teilen der Medizin immer noch das falsche Bild einer psychischen Krankheit in den Köpfen ist“. Auch Claudia Schreiner betont: „Die Länder müssen gezielt Maßnahmen vornehmen und gemeinsam den Bund dazu auffordern, die Versorgung der 250.000 ME/CFS-Betroffenen sicherzustellen.“ 

Covid-19 erhöht Zahl der ME/CFS Erkrankten 

Im vergangenen Jahr gingen etliche solcher Postkarten unter anderem an Gesundheitsminister Jens Spahn und Politiker:innen aus dem Gesundheitsausschuss und den Ländern. Kurze Zeit später genehmigte der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages erstmals einen Förderantrag zur Erkrankung ME/CFS und stellte 900.000 Euro aus Bundesmitteln zur Verfügung. 

Verteilt über drei Jahre dienen diese Mittel dem Ausbau der Forschungs- und Versorgungsstrukturen für ME/CFS-Patienten. Vor drei Monaten gab die Charité zudem bekannt, dass unter der Projektleitung der Immunologin Carmen Scheibenbogen ein interdisziplinäres Versorgungskonzept für Patient:innen mit Chronischem Fatigue Syndrom nach Infektionen entwickelt werde. 

Schätzungen zufolge wird durch Covid-19 weltweit ein Anstieg von 10 Millionen Menschen erwartet, die neu an ME/CFS erkranken. Derzeit sind etwa 17 Millionen Menschen betroffen. Carmen Scheibenbogen vermutet, dass bereits Ende dieses Jahres mit 100.000 Betroffenen in Deutschland zu rechnen ist, die nach einer Covid-19-Infektion ein Vollbild der chronischen Erkrankung ME/CFS entwickeln werden. Derzeit wird die Zahl der Patient:innen in Deutschland auf 250.000 geschätzt.

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