Gedenken am 9. November: Ein deutsches Datum
Revolution, Pogrome und Mauerfall: Der 9. November ist ein mehrfacher und besonderer Jahrestag. Schroffer Jazz, klare Worte und Tanz halfen beim Gedenken.
1918
Die Feier im Bundestag beginnt mit einem, den die Nazis verfolgten. Ein Streichquintett spielt ein Stück des deutschen Komponisten Paul Hindemith, den die Nationalsozialisten 1934 aus dem Radio verbannten, weil seine schroffen Jazz-Rhythmen als „entartet“ galten.
Der Ton für die Gedenkstunde des Bundestags ist damit gesetzt. Ohne die Erinnerung an die Gräuel der Nazizeit wäre eine Sitzung des Bundestags an einem 9. November auch gar nicht vorstellbar.
Eine Rede fürs Herz
An diesem trüben Berliner Morgen geht es allerdings um mehr als das Gedenken an die Pogrome von 1938 gegen Juden in Berlin, Fulda oder Dessau. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist ins Parlament gekommen, um mit einer Grundsatzrede etwas anzustoßen: eine neuen Umgang mit der deutschen Geschichte.
Als SPD-Politiker galt Steinmeier als die Sachlichkeit in Person. Als Bundespräsident aber will er nicht nur den Verstand der Bürger ansprechen – sondern auch deren Gefühle, das „Bedürfnis nach Heimat, Zusammenhalt, Orientierung“. Sieben Mal kommt das Wort „Herz“ in Steinmeiers Rede vor.
Mehr „Herzblut“ wünscht sich der Bundespräsident, wenn es um die Pflege der demokratischen Tradition im Land geht. Er fordert, nicht nur historische Königsgräber und die Schlösser der Fürsten zu pflegen und konservieren, sondern auch die Stätten der deutschen Demokratie-Bewegungen vom Hambacher Fest 1832 bis zur Wende 1989.
Auch will Steinmeier die Protagonisten der deutschen Revolutionen in Erinnerung rufen. „Zu viele von ihnen sind heute vergessen“, sagt er. Obwohl die Novemberrevolution „den sozialen Fortschritt“ – Parlamentarismus, Frauenwahlrecht, Achtstundentag – brachte, habe das Ereignis von 1918 „bis heute kaum Spuren im Gedächtnis unserer Nation hinterlassen“.
Das will Steinmeier ändern. „Jedes Volk sucht Sinn und Verbundenheit in seiner Geschichte“, sagt er. „Warum sollte das für uns Deutsche nicht gelten?“
Der "demokratische Patriotismus"
Steinmeier plädiert für eine eine Art aufgeklärte Heimatliebe, einen „demokratischen Patriotismus“. Der soll beides vereinen, das Gedenken an die dunkelsten Kapitel mit dem Erinnern an die demokratischen Errungenschaften in der deutschen Geschichte. „Ich weiß, es ist schwer, beides im Herzen zu tragen“, gesteht Steinmeier ein. „Aber wir dürfen es versuchen!“
Natürlich seien Holocaust und Weltkriege ein „unverrückbarer Teil“ der deutschen Identität – aber, und darauf legt Steinmeier Wert, die Bundesrepublik ließe sich nicht nur „ex negativo“ erklären, nicht nur aus Scham und Trauer angesichts der Verbrechen aus der NS-Zeit.
Die Deutschen sollten auch stolz sein dürfen auf das, was vor und nach dem Nationalsozialismus war: die Demokratie. „Das ist der Kern eines aufgeklärten Patriotismus“, sagt Steinmeier. „Es geht weder um Lorbeerkranz noch um Dornenkrone.“
"Berlin ist nicht Weimar"
Durch das Erinnern an „Licht und Schatten unserer Geschichte“ die parlamentarische Demokratie zu verteidigen und zu bewahren, vor allem vor ihren Feinden von rechts, das ist Steinmeiers Anliegen.
Doch er wehrt sich auch gegen Alarmismus. „Berlin ist nicht Weimar und wird es nicht werden“, betont er. Dennoch klagt Steinmeier, zu viele hätten sich bereits von Politik und Parteien abgewandt. „Nicht alle diese Menschen sind Gegner der Demokratie – aber sie alle fehlen der Demokratie.“ Paul Starzmann
1938
Josef Schuster ist gerade in der Mitte seiner Rede angelangt, da geht er an diesem geschichtsmächtigen Tag die AfD frontal an – ohne sie beim Namen zu nennen.
Der Präsident des Zentralrats der Juden hat wenige Minuten zuvor in der Synagoge Rykestraße daran erinnert, dass die Novemberpogrome 1938, diese gezielte und staatlich gelenkte mörderische Gewalt gegen Juden, keineswegs aus dem Nichts kamen.
Die Ausgrenzung, die Schikanen gehörten bereits seit Jahren zum erschreckenden Alltag. Dann brannten am 9. November die Synagogen, wurden Tausende Juden in Konzentrationslager verschleppt oder ermordet. Brandstifter waren am Werk, geistige und tatsächliche. Und mit solchen habe man es auch heute wieder zu tun, sagt Schuster.
Hetze gegen Flüchtlinge, Anschläge auf Moscheen und Synagogen
Hetze breite sich in Deutschland wieder aus, beklagt er am Freitag vor der versammelten politischen und gesellschaftlichen Spitze der Republik. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier samt seinen drei Vorgängern Joachim Gauck, Christian Wulff und Horst Köhler ist ebenso anwesend wie Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und Kanzlerin Angela Merkel.
Sie alle hören, wie Schuster die Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte, Moscheen und Synagogen anprangert. Und wie der Zentralratspräsident sagt: Dass solche Dinge im Jahr 2018 passierten, sei „eine Schande für unser Land“. So macht sich Schuster zum Lautsprecher jener, die heute als Minderheit ausgegrenzt und schikaniert werden. Hetze nennt der 64-Jährige das, die von geistigen Brandstiftern befördert werde.
Attacken auf die AfD
Damit ist Josef Schuster bei der AfD angelangt. Er nennt sie nur „eine Partei, die im Bundestag am ganz äußeren rechten Rand sitzt“. Sie habe die Hetze perfektioniert, betreibe Geschichtsklitterung und wolle die deutsche Gedenkkultur zerstören.
„Es wäre für die jüdische Gemeinschaft unerträglich gewesen, heute, 80 Jahre nach der Pogromnacht, Vertreter dieser Partei unter uns zu wissen. Daher haben wir diese Fraktion als einzige des Deutschen Bundestags nicht eingeladen.“
Es ist nicht das erste Mal, dass ein hochrangiger Vertreter des Judentums die Alternative für Deutschland attackiert. Aber in einer Synagoge, bei einer zentralen Gedenkveranstaltung, bekommt eine derartige verbale Ohrfeige eine besondere Wucht.
Merkel wählt eher staatstragende Worte. Sie erinnert eingangs ebenfalls daran, dass das Unheil des Nationalsozialismus nicht einfach so und plötzlich über Deutschland hereinbrach. Auch die Kanzlerin warnt vor Hass und Diffamierung, macht also keinen Hehl daraus, dass längst nicht alles zum Besten steht. Zwar gebe es wieder ein blühendes jüdisches Leben in Deutschland, doch zugleich einen besorgniserregenden Antisemitismus.
Der Rechtsstaat ist gefordert
Damit spricht Merkel der jüdischen Gemeinschaft aus der Seele. Seit Langem herrscht große Unruhe und Angst vor einer Judenfeindlichkeit, die sich immer unverhohlener zeigt – egal ob sie von links, rechts oder von muslimischer Seite kommt.
Merkel weiß das, verspricht, dies nicht tatenlos hinzunehmen. Der Rechtsstaat dürfe keine Toleranz zeigen, wenn Menschen aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Hautfarbe angegriffen würden. Dann erinnert sie mit dem Artikel 1 des Grundgesetzes an eine Selbstverständlichkeit, die allzu oft keine mehr zu sein scheint: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Christian Böhme
1989
So unbefangen kann das wahrscheinlich nur eine junge Schweizerin. Auf die Frage, was sie den Deutschen heute sagen wolle, antwortet die Abiturientin Leonie Kuhn in der Kapelle der Versöhnung vor geladenen Gästen aus Politik, Kultur und Gesellschaft: „Deutschland kann stolz auf sich sein, da zu stehen, wo es heute steht.“
Und das an diesem Tag, dem 9. November, einem Datum von „nicht zu überbietender Ambivalenz für die deutsche Geschichte“, wie der Direktor der Mauerstiftung Axel Klausmeier, zu Beginn des Gedenkakts gesagt hatte.
Punkt 14 Uhr war es mit Posaunenmusik losgegangen, natürlich in Anlehnung an die alttestamentarischen Posaunen von Jericho, mit deren Hilfe Josua die Mauern der Stadt zu Fall brachte.
"Lernort für Toleranz und Weltoffenheit"
Klausmeier erinnerte an den Mut der Menschen in der DDR und daran, wie sie die Mauer zum Einsturz brachten, an die Folgen für die gesamte politische Landkarte, benannte die Strahlkraft des freiheitlichen Europas und bezeichnete die Gedenkstätte als „Lernort für Toleranz und Weltoffenheit“.
Dann waren Schüler dran, aus Frankreich, Norwegen und Deutschland. Sie sprachen Texte, sangen, sie verkörperten dabei genau jenes Europa ohne Grenzen und Mauer, von dem die Älteren jahrzehntelang träumten.
„Unsere Väter lebten vor 29 Jahren in derselben Stadt, aber in zwei unterschiedlichen Staaten“, sagten zwei Jungs. „Heute sind sie Freunde und spielen in derselben Fußballmannschaft.“ Der Jahrestag des Mauerfalls war in der Reihe der Gedenktage diesmal der am wenigsten staatstragende. Sein großer Moment schlägt zum runden Jubiläum nächstes Jahr, wenn sich der Mauerfall zum 30. Mal jährt.
Die angegriffene Würde des Gedenktags
Prominenz war natürlich da, unter anderem der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD), Parlamentspräsident Ralf Wieland (SPD) sowie weitere Landespolitiker und Senatoren.
Wieland zeigte sich im Gespräch mit Pfarrer Thomas Jeutner besorgt über die zu erwartende Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts zur angekündigten Demonstration von Rechten, die von der Innenverwaltung verboten, vom Verwaltungsgericht aber erlaubt worden war.
In der anschließenden Andacht wünschte sich auch Pfarrer Jeutner ein erneutes Verbot, denn eine solche Demonstration am 9. November verletze die Würde dieses Gedenktages. Zum Schluss des Gottesdienstes, bevor alle Teilnehmer die Kerze anzündeten, die sie beim Auszug aus der Gedenkstätte erhalten hatten, wurde der Film gezeigt, den die Abiturientin Leonie Kuhn von der Schweizer Kantonsschule Wettingen als Abiturarbeit angefertigt hatte.
Er trägt den Titel „Die Berliner Mauer. Eine tänzerische Inszenierung“ und zeigt in abstrakten Tanzszenen die Geschichte der Mauer bis zu ihrem Fall. Die Choreographie stammt von Kuhn. Als sie 1999 geboren wurde, stand die Mauer längst nicht mehr. Fatina Keilani