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Die SPD ist nur noch ein Schatten ihrer selbst.
© Tobias Schwarz/AFP

Krise der SPD: Doch da schreitet keiner an der Seite

Die Funktionärskaste der SPD verzweifelt bei der Suche nach der Seele der eigenen Partei. Die SPD hadert mit sich selbst und der Wähler mit ihr. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Was für ein Gegensatz! Während die CDU aus dem angekündigten Rücktritt ihrer Vorsitzenden die Kraft zur Erneuerung gewinnt und sich eine die Partei geradezu befreiende Lust an Diskussionen Bahn bricht, bietet die SPD ein Bild der Ratlosigkeit, der Erstarrung und der verzweifelten Suchens nach dem Wesenskern der Partei.

Wie desolat die Lage der traditionsreichsten deutschen demokratischen Partei ist, zeigen nicht nur Wahlergebnisse und Umfragen – die jüngste aus dem Oktober gibt dem kleineren Partner einer Koalition, die man früher wegen ihrer schieren Größe die „Große“ nannte, gerade einmal 15 Prozent der Wählerstimmen. Das ist nicht viel mehr als die Hälfte dessen, was CDU und CSU gemeinsam erreichen. Aber auch der Blick auf die Parteispitze zeigt das ganze Ausmaß der Verzweiflung. Während die CDU seit dem Jahre 2000 eine einzige Parteivorsitzende hatte, eben Angela Merkel, finden sich bei der SPD deren zehn, einstige Hoffnungsträger wie Gerhard Schröder und Martin Schulz, gescheiterte Aufräumer wie Franz Müntefering, kommissarische Verwalter wie Olaf Scholz, aus der schieren Verzweiflung gewählte wie Andrea Nahles. Warum hadert die SPD so mit sich selbst - und der Wähler mit ihr?

Das deutsche Wahlrecht könnte einen Schlüssel, einen von mehreren vermutlich, zur Erkundung des Rätsels SPD liefern. Es gibt dem Wähler, der Wählerin, zwei Stimmen, eine für die direkte Wahlkreiskandidatin oder den Kandidaten, eine für die Landesliste. Die garantiert, dass bei Wahlen zum Bundestag nicht das Prinzip „The winner takes it all“ herrscht wie in Großbritannien, sondern dass die Parteien im Verhältnis zu ihrer ihnen vom Wähler zugestandenen Stärke im Parlament präsent sind. Direktmandate in nennenswerter Zahl erringen nur die beiden großen Volksparteien, die Union und die SPD.

Aber hier zeigt sich ein eklatanter Unterschied zwischen der Verankerung von CDU und CSU auf der einen und der SPD auf der anderen in den Wahlkreisen. Von 200 CDU-Abgeordneten wurden 185 direkt gewählt. Bei der CSU gingen sogar alle bayerischen Wahlkreise – 67 sind es – direkt an die CSU. Von den 153 SPD-Abgeordneten errangen aber nur 59 ein Direktmandat. 94 zogen über die Landeslisten in den Bundestag. Das war auch schon anders. 1998, im Jahr der Ablösung Helmut Kohls als Kanzler, errang die SPD stolze 212 Direktmandate, von 298 insgesamt. 212 zu 59 – das war mehr als dreifache.

Bei den Direktmandaten hat die SPD dramatisch verloren

Traditionell sichern beide großen Parteien über die vorderen, sicheren Plätze auf den Landeslisten jene Experten ab, die sie wegen ihres großen Sachverstandes etwa in der Wirtschafts-, Verteidigungs- oder Außenpolitik unbedingt in ihrer Fraktion haben wollten, auch wenn sie ihnen nicht die Popularität zutrauten, einen Wahlkreis direkt zu erringen. Dabei schließen sich Fachkompetenz und Bürgernähe nicht aus - mit den herausragenden  Außenpolitikern Hans-Ulrich Klose, SPD, und Ruprecht Polenz, CDU, gab es zum Beispiel in den vergangenen Jahrzehnten zwei Experten, die immer wieder ihre Wahlkreise direkt holten.

Die SPD erliegt aber der Gefahr, auf den Landeslisten Frauen und Männer zu platzieren, deren politische Überzeugungen denen der eher links stehenden Funktionäre nahe sind. Dass die sozialdemokratische Basis konservativer denkt und fühlt als die Funktionärsschicht, zeigt sich immer wieder. Der Einfluss der Funktionsleiten erleichtert, dass in den Parteien Karrieren gefördert werden, deren Ziel nie etwas anderes als das des Berufspolitikers gewesen ist. Von den Schüler- und Jugendorganisationen über eine Studienentscheidung, die im Parlament nützlich sein kann (eher Politologie als Wirtschaftswissenschaften, eher Sozialwissenschaften als Ingenieur) bis hin zur Mitarbeit im Büro einer Abgeordneten oder eines Abgeordneten verläuft die Kette.

Diese Inhouse-Karrieren funktionieren dank der Landeslisten. Sie  bieten sichere Aufstiegschancen, haben aber mit dem beruflichen Alltag der Wähler kaum etwas gemeinsam. Das bringt dann – nicht nur in der SPD - jene Politiker hervor, die in Krisensituationen gönnerhaft ankündigen, man müsse nun aber „mit den Menschen reden“ – so, als würde ein Individuum auf einer höheren Entwicklungsstufe das Gewimmel unter ihm überblicken, und abwägen, wie man das Volk zur Einsicht bringt.

Weltferne Parteikarrieren führen zur Entfremdung vom Wähler

Parteikarrieren erzeugen Parteikarrieren. So gebiert eine Entfremdung vom Wähler die nächste. Ein SPD-Abgeordneter aus dem konservativen Seeheimer Kreis schildert gerne den Anruf seines eher linken Landesvorsitzenden. Der rät ihm, in einer bestimmten Frage doch im Sinne des Vorstands abzustimmen. Und fügt, mit leicht drohendem Unterton, hinzu: er solle an seine Platzierung auf einem sicheren Platz auf der Landesliste denken. Das Argument zog in diesem Fall nicht: Der Abgeordnete war direkt gewählt und wusste genau, wie wichtig er für die Partei war.

Dass die Weltferne mancher interner Diskussionen auf SPD-Landes- oder Bezirksparteitagen durchaus etwas mit den Stimmverlusten der SPD zu tun hat, weiß auch Sigmar Gabriel, einst Vorsitzender der SPD. In einem Interview der Welt am Sonntag antwortete er – nach einem dreiwöchigen Lehrauftrag in den USA – auf die Frage, welche Parallelen es zwischen der Situation der US-Demokraten und der SPD gebe: „Beide Parteien haben zu wenig für die Interessen der arbeitenden Menschen gekämpft, zu sehr für Einzelgruppen.“ Und der Sozialhistoriker Jürgen Kocka schrieb im Tagesspiegel zur Krise der SPD: „Die staatliche Fürsorge darf das bürgerschaftliche Eigen-Engagement nicht erdrücken. Sozialer und ökonomischer Fortschritt gehören zusammen. Umgekehrt dürfen die linksbürgerlichen Moralisten in der SPD die Basis nicht überfordern“. Und er fährt fort: „So sehr das entschiedene Eintreten für universelle Rechte zur DNA der Sozialdemokratie gehört, so dringend ist es für die Partei, liberal-humanitäre Prinzipien und soziale Leistungsfähigkeit immer neu auszutarieren. Dies ist ihr beispielsweise in der Flüchtlings- und Migrationspolitik seit 2015 nicht gelungen und trägt zu ihrem Niedergang bei.“

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