zum Hauptinhalt
Horst Seehofer läuft auf seinem Weg zur Pressekonferenz an einem Fernseher vorbei, auf dem die Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Angela Merkel übertragen wird.
© Peter Kneffel/dpa

Der Streit zwischen Seehofer und Merkel: Die Zeitbombe tickt

Die CSU gewährt Angela Merkel einen Aufschub bis zum 1. Juli, die Kanzlerin droht bereits mit ihrer Richtlinienkompetenz. Warum geht der Streit unvermindert weiter? Eine Analyse.

Markus Söder steht nicht im Ruf, mit der Sprache feinsinnig umzugehen. Doch der verbreitete Glaube, dass der Bayer ein wüster Polterer sei, unterschätzt ihn massiv. Bei dem Mann, der bayerischer Ministerpräsident ist und es um fast jeden Preis bleiben will, lohnt es, auf jedes Wort zu achten. Am Montagvormittag baut sich Söder in München vor dem Franz-Josef-Strauß-Haus auf und lächelt wölfisch. „Wir als CSU stehen, wir sind geschlossen, wir sind entschlossen“, sagt Söder. Das riecht nach Krieg. Kurz vorher hat CDU-Vize Armin Laschet in Berlin vor dem Konrad-Adenauer-Haus verkündet: „Die CDU steht hinter der Bundeskanzlerin.“ Laschet kann nicht wölfisch, sondern bloß rheinisch-gemütlich. Doch der ganze Aufmarsch – CDU und CSU tagen getrennt, Merkel hat mit Getreuen in der Nacht sieben Stunden lang alle Eventualitäten beredet – gleicht einer Schlachtordnung.

In so viel Pulverdampf gehen Söders nächste Sätze fast unter. „Wir entscheiden heute, ob wir diesen Beschluss heute machen“, sagt der Christsoziale, „über die entsprechende Umsetzung wird der Bundesinnenminister sagen, wie er sich das vorstellt. Wir sind überzeugt davon, dass es eine wichtige Aufgabe ist, eine Asylwende in Deutschland einzuleiten.“

Nicht augenblicklich erzwingen

„Einzuleiten“ – das entscheidende Wort, ganz zuletzt. Nicht augenblicklich erzwingen, nicht gleich durchpauken – einleiten. Wie das genau gemeint ist, erfährt der CSU-Vorstand wenig später vom Chef. Horst Seehofer kündigt einen Stufenplan an. Erst wird er in seiner Kompetenz als Bundesinnenminister den Grenzposten befehlen, jeden Asylbewerber zurückzuweisen, der mit einer Einreisesperre belegt ist (was bisher aus verwickelten, auch rechtlichen Gründen nicht so ist). Dann wird er die Bundespolizei anweisen, alles vorzubereiten, um die nächste Rückweisestufe zu zünden für einen größeren Personenkreis. Das braucht aber sowieso Zeit. Bis Anfang Juli soll Angela Merkel darum versuchen dürfen, mit den am meisten betroffenen europäischen Partnern ein geordnetes Verfahren auszuhandeln.

„Einzuleiten“ ist ein Angebot zum Waffenstillstand. Der CSU-Vorstand billigt es einstimmig. Beiläufig lässt Seehofer durchblicken, dass er die Frist für Merkel intern durchsetzen musste: „Im ursprünglichen Vorstandsbeschluss stand, ich sollte das unverzüglich machen.“ Wer den Konflikt sofort auf die Spitze treiben wollte, lässt er im Dunkeln. Aber dass am Wochenende der CSU-Generalsekretär alle Berichte über genau dieses Modell als „frei erfunden“ dementieren musste, war ein klarer Hinweis auf eine komplizierte Debatte, bevor das CSU-Angebot stand.

Merkel und die CDU-Spitze nehmen es an. Überrascht hat es die Kanzlerin nicht. Sie habe den Plan mit Seehofer übers Wochenende besprochen, erklärt die CDU-Chefin nach der Sitzung ihrer Parteigremien. „Eine Bundeskanzlerin und ein Innenminister müssen gesprächsfähig sein“, betont sie – ein Seitenhieb gegen Seehofers angeblichen, dann dementierten Ausspruch in kleinem CSU-Kreis, er könne mit der Frau nicht mehr arbeiten. Minuten später tritt Seehofer in München ebenfalls vor die Presse: „Gehört’s zum guten Stil, dass man 14 Tage noch einhält, soll’s an den stilvollen Bayern nicht scheitern.“

Nicht das Ende des Krieges

Doch der Waffenstillstand ist nicht das Ende des Krieges. Ob nach den zwei Wochen die Schlacht wieder ausbricht, ist offen. Merkel hat sich von der CDU-Spitze ausdrücklich bestätigen lassen: Es gebe für das Vorgehen nach dem EU-Gipfel „keinen Automatismus“. Unter einem Diktat – entweder Erfolg, oder die CSU kriegt ihren Willen – will sie nicht mit EU-Partnern verhandeln, die jeder für sich auch nicht einfach sind. Die CDU-Spitze werde am 1.Juli die Ergebnisse bewerten, kündigt die CDU-Chefin an. Ihre Partei lege dabei Wert darauf, dass sie erst untereinander und danach mit der Schwesterpartei CSU rede.

Seehofer und die CSU sehen das eigentlich anders. Wenn Merkel aus Brüssel „wirkungsgleiche“ Abmachungen mitbringe, sei alles gut. Andernfalls sei er „fest entschlossen“, die Zurückweisung aller Asylbewerber an der Grenze umzusetzen, die in anderen Ländern schon registriert sind. „Es geht neben der Funktionsfähigkeit unseres Rechtsstaats auch um die Glaubwürdigkeit meiner Partei“, sagt Seehofer. Natürlich werde er vorher mit Merkel über die Gipfelergebnisse reden – für ihn „eine Frage des Anstands“.

Für Merkel ist es weitaus mehr. „Nicht unilateral, nicht unabgesprochen und nicht zulasten Dritter“ zu handeln, sei ihr Credo seit dem 14. September 2015 gewesen, als sie mit Österreich die Aufnahme der umherirrenden Flüchtlinge aus Ungarn vereinbart habe. Diese „große Philosophie“ gelte weiter. Das sei „eine Frage der Richtlinienkompetenz“.

Praktisch wenig wert

Merkel hat das Wort noch nie in den Mund genommen, und wenn doch, dann in dem Tonfall: Joo, steht im Grundgesetz, ist aber praktisch wenig wert. Jetzt fällt es in einem Nebensatz. Dabei ist es eine Bombe mit Zeitzünder. Seehofer erklärt in München das eine Detail aus seinem 63-Punkte-Plan, den außer Merkel und ihm und ein paar Beamten immer noch keiner kennt, zum „grundlegenden Konflikt“. Die Kanzlerin nimmt die Herausforderung an. Ob sie gut oder erfolglos verhandelt, ob Seehofer und seine CSU hinterher das Ergebnis für hinreichend befinden oder nicht, wird damit zum Schicksalsmoment dieser Regierung.

Richtlinienkompetenz heißt, dass die Kanzlerin entscheidet. Das Grundgesetz gibt ihr das Recht dazu, die Geschäftsordnung der Regierung regelt die Details. Es lohnt, sie nachzulesen. „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der inneren und äußeren Politik“, steht dort zu lesen. „Diese sind für die Bundesminister verbindlich und von ihnen in ihrem Geschäftsbereich selbstständig und unter eigener Verantwortung zu verwirklichen.“ Findet ein Minister die Richtlinien zu eng und will über sie hinausgehen, „so hat er dem Bundeskanzler unter Angabe der Gründe hiervon Mitteilung zu machen und seine Entscheidung zu erbitten“.

„Erbitten“ – was für ein Wort in dieser Situation! Die eigentliche Brisanz der kurzen, schnörkellosen Sätze steckt aber anderswo. Seehofer hat bisher immer darauf gepocht, dass er als Bundesinnenminister die Zurückweisung an der Grenze in eigener Zuständigkeit befehlen dürfe. Das stimmt insoweit, als die Bundespolizei und damit der Grenzschutz ihm unterstellt sind. Doch Merkel nimmt ihm mit ihrem Nebensatz diese Kompetenz aus der Hand. Sie erklärt ihre Prinzipien zur Richtlinie. Ab diesem Moment setzt jeder Verstoß dagegen Seehofer ins Unrecht. Er darf den verschärften Grenzschutz nicht mehr im Alleingang befehlen. Die Bundespolizei dürfte ihm wohl auch nicht folgen.

Den CSU-Chef erwischt Merkels Nebensatz kalt. „Mir gegenüber hat sie mit der Richtlinienkompetenz nicht gewedelt“, sagt er. „Das wäre auch unüblich zwischen zwei Parteivorsitzenden.“ Darüber, ob Merkel ihn im Zweifel feuern würde, mag er nicht spekulieren. „Darüber rede ich heute nicht“, sagt er, „step by step.“ Merkel lässt sich erst recht nicht in die Karten gucken. „Sie kennen mich“, antwortet sie einem Journalisten, „dass ich Wenn-dann-Fragen niemals beantworte. Wir sehen uns wieder am 1. Juli.“ Die Zeitbombe tickt.

Zur Startseite