CSU und CDU im Asylstreit: Wer in der Union welche Strategie verfolgt
Der Machtkampf zwischen Seehofer und Merkel um die Flüchtlingspolitik ist verwirrend. CDU und CSU dementieren sich fortlaufend. Wer hat welche Strategie? Eine Analyse.
Über die Bedeutung des Faktors Zeit in der Geschichte kann man ganze Bücher schreiben. Kriege sind ausgebrochen, weil Staatenlenker fürchteten, der andere werde ihnen zuvorkommen. Kriege sind verhindert worden, weil sich Staatsmänner die Zeit nahmen, ein letztes Mal zu reden. Manchmal kann ja schon ein Wochenende helfen.
Am vorigen Donnerstag war der Konflikt zwischen CDU und CSU über die Flüchtlingspolitik an der Grenze von Kampfhandlungen nicht weit entfernt. Am Freitag rief man sich noch böse Worte zu. Am Samstag und Sonntag wurde viel telefoniert. Auch Angela Merkel und Horst Seehofer sprachen miteinander. Und bei allen stand offen oder unausgesprochen eine Frage im Zentrum: Wollen wir es so weit treiben, dass von der Regierung und der Gemeinschaft der Unionsparteien nur noch eine Trümmerlandschaft bleibt?
Wie fragil und undurchsichtig die Lage war, wurde am Sonntag vor aller Augen deutlich. Da fing die CSU an, sich gegenseitig zu dementieren. Die „Welt“ hatte einen Satz kolportiert, den Horst Seehofer vorige Woche in einer kleineren Runde von CSU-Führungsleuten wie dem Landesgruppenchef Alexander Dobrindt gesagt haben soll.
Der CSU-Chef hatte am Abend zuvor mit Merkel darüber verhandelt, ob sich der Streit über die Zurückweisung bereits anderswo registrierter Asylbewerber an der deutschen Grenze gütlich beilegen lässt. Beide Seiten machten Kompromissvorschläge, die die jeweils andere als Scheinangebot oder Falle deutete und zurückwies. Anderntags habe Seehofer zwei Mal im kleinen Kreis gesagt: „Ich kann mit der Frau nicht mehr arbeiten.“ Nun muss so ein Satz nicht todernst gemeint sein. Man stöhnt ja so manches daher, wenn man sauer ist auf die Chefin. Doch aus geschlossener Runde durchgestochen, wird der Satz zur üblen Vielzweckwaffe. Er verpestet das Klima zwischen CDU und CSU weiter. Man kann ihn als Kampfruf zur Attacke auf die CDU-Chefin nutzen. Man könnte damit Seehofer zu rabiaten Schritten zwingen: Du hast selber gesagt, dass es keinen Sinn mehr hat!
Was es mit den Kompromissvorschlägen auf sich hat
Sogar einer aus der CDU-Führung ist denn auch sicher: Den Satz hat nicht Seehofer weitergetratscht. Da wolle einer den Parteichef und Innenminister in die Hand bekommen. Es folgt das Dementi aus CSU-Kreisen: Seehofer stelle die Zusammenarbeit mit Merkel nicht infrage. Der Satz sei nicht gefallen. Damit war es mit dem Dementieren aber nicht vorbei. Die „Bild“-Zeitung vermeldete ein „zweites Ultimatum“ Seehofers an die Kanzlerin: Der CSU-Vorstand solle am Montag beschließen, dass der Bundesinnenminister der Bundespolizei die Zurückweisung an der Grenze befiehlt, der Kanzlerin aber bis zur Umsetzung zwei Wochen Frist für eine Verhandlungslösung mit EU-Grenzstaaten einräumt.
Diese Variante hatten Seehofer und sein Sekundant, Ministerpräsident Markus Söder, der Kanzlerin schon am vorigen Mittwoch vorgeschlagen. Merkel lehnte ab. Sie konnte sich ausrechnen, wie aus einem Ja ein CSU-Sieg auf ganzer Linie gemacht worden wäre. Inzwischen aber wäre es ein halbes Zugeständnis der Bayern, wenn sie die Zwei-Wochen-Frist gewähren. „Die Meldung ist frei erfunden“, schimpft denn auch Generalsekretär Markus Blume. „Pure Desinformation!“
„Es gibt verschiedene Interessen“, räumt einer aus der Parteispitze ein. Tatsächlich waren Bestrebungen in der CSU für eine solche Lösung im Gange. Damit könnten beide Seiten ihr Gesicht wahren, sagte einer, der daran arbeitete: Die CSU bekommt so oder so ihren Willen, Merkel die Chance auf eine Lösung im Kreis der betroffenen Europäer.
Dafür ist Merkel aktiv geworden. Am Montag schaut eh der neue italienische Regierungschefs Giuseppe Conte zum Antrittsbesuch vorbei, Dienstag kommt der Franzose Emmanuel Macron samt Kabinett ins Schloss Meseberg, um mit den Deutschen den Euro-Gipfel am 28. und 29. Juni vorzubereiten. Gespräche über die Zurückweisungsfrage mit anderen europäischen Regierungen sind im Gange, nicht ausgeschlossen ein Minigipfel der unmittelbar Betroffenen noch vor dem Brüsseler Rat.
Fragt sich nur, ob die CSU-Spitze Merkels Aktivismus wenigstens stillschweigend honoriert. Beide Parteichefs bemühten sich am Wochenende, den Streit nicht zu eskalieren. Merkel beließ es in ihrem Podcast zum Meseberg-Treffen mit Macron bei dem Satz, dass die Asylfrage als europäische Herausforderung eine europäische Antwort brauche. Sie lud für den Abend den engsten Kreis ihrer Parteiführung nach Berlin, um erst das WM-Spiel Deutschland gegen Mexiko zu gucken und dann die Gremien am Montag vorzubereiten.
Seehofer versichert in der „Bild am Sonntag“: „Niemand in der CSU hat Interesse, die Kanzlerin zu stürzen, die CDU/CSU-Fraktionsgemeinschaft aufzulösen oder die Koalition zu sprengen.“ Am Montag Vormittag trifft sich auch der CSU-Vorstand, um erklärtermaßen Seehofer freie Hand zum Alleingang als Minister notfalls gegen Willen und Richtlinienkompetenz der Kanzlerin zu geben.
"Die Lage ist ernst, aber bewältigbar"
Dass in München aber wirklich niemand die Absicht hat, eine Mauer durch die Union zu bauen, würden nicht einmal führende CSU-Leute beschwören. Alle haben Söders Auftritte in Berlin registriert. Viele haben aufgemerkt, als der Spitzenkandidat im „heute-Journal“ der Frage nach dem Koalitionsbruch auswich und als oberste Maxime verkündete: „Wir wollen auf keinen Fall riskieren, Glaubwürdigkeit zu verlieren.“ Man muss dazu wissen: „Glaubwürdigkeit zurückgewinnen“ war Söders Kampfformel gegen Seehofer, als er ihn aus der Staatskanzlei verdrängte. Schon damals warf der Rivale dem Alten vor, dass er Merkel zu oft doch wieder Brücken baue.
Und Söder hat in München die Landtagsfraktion im Nacken. Der ist das eigene Mandat näher als die Unionsgemeinschaft im fernen Berlin. Fraktionschef Thomas Kreuzer hat einen Koalitionsbruch in Berlin sogar zur haltlosen Spekulation und das Reden darüber für „falsch und gefährlich“ erklärt. In Berlin halten viele in CDU wie CSU dagegen genau solche losen Sprüche für gefährlich. Niemand könne den Bruch wollen, sagen alle, die die Folgen bedenken: Zwei Parteien, Einmarsch der CDU in Bayern – bis August könnte sie sich zur Landtagswahl anmelden –, Ausdehnung der CSU ins Bundesgebiet, Aus für die absolute CSU-Mehrheit in München, Ende des Kanzler-Anspruchs in Berlin. Nur: „Wenn die Kanonen im August erst losschießen“, warnt ein historisch Belesener in Anspielung auf ein Standardwerk zum Ersten Weltkrieg, „hält sie nichts mehr auf“.
Am Sonntag meldete sich Seehofer noch einmal zu Wort. „Die Lage ist ernst, aber bewältigbar“, schrieb er in einem Gastbeitrag für die „FAZ“. CDU und CSU müssten diskutieren, der Zusammenhalt in Deutschland und Europa stehe auf dem Spiel, der EU-Gipfel Ende Juni müsse zu Beschlüssen kommen. Der Gipfel? Vielleicht wird dann ja doch etwas aus dem gerade dementierten Kompromiss.