Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland: "Die Wahrheit ist bitter, aber muss ausgesprochen werden"
„Für den guten Ruf des Ostens sind nicht nur Pfarrer und Politiker zuständig“: Die Ost-Beauftragte der Regierung, Iris Gleicke, sieht die Zukunft der neuen Bundesländer bedroht.
Frau Gleicke, Sie haben zunehmende Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland kritisiert und wurden von den Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer dafür attackiert. Nehmen die Regierungschefs das Problem nicht ernst?
In allen neuen Bundesländern gibt es mittlerweile Programme gegen Rechtsextremismus. Das bestätigt meinen Befund. Ungefähr die Hälfte aller rechtsextremistischen Straftaten geschehen im Osten, obwohl im Westen circa viermal so viele Menschen wohnen. Das zeigt die Größe des Problems. Die Wahrheit ist bitter, aber sie musste ausgesprochen werden.
Und ich will auch noch einmal klarmachen: Es geht nicht darum, Ostdeutschland schlechtzureden und den Ostdeutschen zu schaden. Die große Mehrheit der Ostdeutschen ist weder rechtsradikal noch fremdenfeindlich. Ich bin selbst Ostdeutsche. Ich bin stolz darauf, was in Ostdeutschland in den vergangenen 26 Jahren geleistet wurde. Aber die Zahlen gibt es, und man muss die Fakten benennen und die Gefahren für die ostdeutsche Wirtschaft ansprechen. Denn gegensteuern müssen wir jetzt.
Sie sehen eine „ernsthafte Bedrohung des gesellschaftlichen Friedens“ durch Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus in Ostdeutschland. Können Sie das erläutern?
Denken Sie an die Einheitsfeier in Dresden. 360.000 friedlich feiernde Bürger, aber das Bild des Ostens wurde durch einige hundert Rechtspopulisten und Rechtsextreme bestimmt. So etwas geschieht, wenn sich die schweigende Mehrheit nicht auf die Seite derer stellt, die für Demokratie und gegen Ausgrenzung eintreten. Menschen, die sich für Flüchtlinge einsetzen und Zivilcourage beweisen, werden bedroht und erhalten keinen Rückhalt in der Nachbarschaft. So etwas zerreißt nicht nur die Gesellschaft. Mir wird auch immer wieder darüber berichtet, dass Positionen in der Wirtschaft, in Wissenschaft und im kulturellen Bereich nicht besetzt werden können, weil die Wunschkandidaten nicht nach Ostdeutschland ziehen wollen. Das bedroht die Zukunft der neuen Bundesländer.
Sie tragen seit 1990 politische Verantwortung, sitzen im Bundestag. Wann ist Ihnen das Ausmaß des Problems klargeworden?
Im Jahr 2005 haben die Neonazis meine südthüringische Heimatstadt Schleusingen zur „Frontstadt“ erklärt, und es war sehr mühsam, gegen die 200 Neonazis eine ausreichend große Gegenbewegung auf dem Marktplatz zu organisieren. Ein Phänomen, das mir seither immer wieder von Bürgerbündnissen geschildert wurde. Die Flüchtlingskrise ist jetzt so etwas wie der Brandbeschleuniger einer Stimmung, die es schon lange gibt.
Welche Fehler hat die Politik in den vergangenen 26 Jahren gemacht?
Es hat in einigen Regionen zu lange gedauert, bis die Verantwortlichen das Problem erkannt und aktiv an seiner Lösung gearbeitet haben. In Thüringen und auch in Sachsen sind Landesprogramme gegen Rechtsextremismus erst sehr spät gestartet.
In beiden Ländern regierte lange die CDU. Hat sich die Sozialdemokratie nichts vorzuwerfen?
Es geht mir hier nicht um Schuldzuweisungen. Dort, wo Sozialdemokraten regiert haben, wurde das Thema nicht verharmlost. In der CDU gab und gibt es ebenfalls eine Aufmerksamkeit für das Thema. Aber es gibt eben auch viele, die sehr lange nichts davon wissen wollten. Als die NPD in Südthüringen die Thügida-Demonstrationen übernahm, wollten die Suhler ein Zeichen setzen und geschlossen dagegenhalten. Die CDU im Stadtrat hat sich diesem gemeinsamen Vorgehen damals verweigert.
Auch in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, wo die SPD schon lange regiert, gibt es Fremdenhass und rechte Übergriffe.
Die Zahl der Übergriffe ist auch dort groß. Ressentiments gegen alles Fremde gibt es überall im Osten – leider.
Was soll nun geschehen, Frau Gleicke?
Die Zahlen sind ein Weckruf, der Umgang damit bedarf einer Zäsur. Wir müssen Ursachen offenlegen, die notwendige Debatte führen und auf allen Ebenen nach Lösungen suchen. Dazu gehört auch, dass die Wirkung der Programme zur Stärkung von Demokratie und gegen Rechtsextremismus kritisch durchleuchtet und deren Umfang gegebenenfalls erweitert wird. Ich habe eine Studie vergeben, die die Ursachen für den stärkeren Rechtsextremismus in Ostdeutschland wissenschaftlich untersuchen soll und dabei auch auf regionale Unterschiede eingeht.
Was erwarten Sie von Ostdeutschen konkret?
Ich appelliere an jeden, auf seine Weise und mit seinen Mitteln unter anderem die Bürgerbündnisse gegen Rechtsradikalismus und Gewalt zu unterstützen, die es überall gibt. Es war ein langer und harter Aufbauweg in den letzten 26 Jahren, und wir haben viel erreicht in Ostdeutschland. Die Menschen sollten stolz und selbstbewusst auf dieses Werk blicken, denn sie haben den schweren Rucksack der Wendejahre getragen. Das sollten wir uns jetzt nicht kaputtmachen lassen von einer kleinen Zahl von Hetzern und Unverbesserlichen. Für den guten Ruf des Ostens sind nicht nur Politiker und Pfarrer zuständig – da sind alle Demokraten gefordert.
Wirkt die Abgeschlossenheit der DDR auch heute noch nach?
Bestimmt liegt ein Teil der Ursachen auch im Erbe der DDR. Aber man kann so lange nach dem Mauerfall nicht mehr alles auf die DDR schieben. Es gibt im Osten ein sehr tief sitzendes Misstrauen, denn den Menschen wurde mit einem Schlag ein großer Teil ihrer Identität genommen. Soziale Sicherheit ging verloren, Gewissheiten wurden zerstört, kein Stein blieb auf dem anderen. Das bleibt nicht ohne Wirkung, es nagt am Selbstbewusstsein und macht manchmal anfällig für billige Parolen und Schuldzuweisungen an alles Fremde. Bis heute löst zum Beispiel das Wort Treuhandanstalt bei sehr vielen Menschen Wut aus. Der demokratische Staat, das haben viele Ostdeutsche erlebt und erlitten, konnte sie nicht vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg bewahren. Und das sorgt bis heute dafür, dass es wenig Vertrauen in unsere Gesellschaft und seine Eliten gibt.
Die Bundesrepublik hat einen ostdeutschen Präsidenten, eine ostdeutsche Bundeskanzlerin.
Das ist richtig, aber das reicht nicht. Die Wirtschaftskraft liegt immer noch deutlich unter der westdeutschen. Der Anteil der Rektoren mit ostdeutscher Biografie an ostdeutschen Hochschulen beträgt nur 15 Prozent. Auch in Regierungszentralen, Unternehmen oder bei den Medien sieht es nicht besser aus. Die Menschen bemerken das sehr wohl, und es trägt nicht dazu bei, dass sie sich als gleichwertiger Teil eines demokratischen Gemeinwesens betrachten.
Ist die Angleichung der Renten im Osten an das Niveau des Westens, die die SPD fordert, ein Schritt zur Stärkung des Selbstwertgefühls der Menschen?
Ja, das ist so. Der Bericht zur Deutschen Einheit unterstreicht die Bedeutung der Angleichung der Rentenwerte in Ost und West für die Vollendung der sozialen Einheit. Wir haben das seit sehr vielen Jahren versprochen, und es gibt keinen Grund, das noch weiter zu verzögern. Das Vorhaben stand schon 2009 im Koalitionsvertrag von Union und FDP, und es steht in unserem Vertrag. Wenn wir jetzt nicht Wort halten, verliert die politische Klasse noch weiter an Glaubwürdigkeit in den neuen Bundesländern. Wir müssen sagen, was wir tun – und tun, was wir sagen.
Wenn die heute ausgezahlten Renten angeglichen werden, führt das zu einer Anpassung der Rentenbeiträge und Rentenwerte der Arbeitnehmer in Ostdeutschland. Werden sie die Verlierer dieser Anpassung sein?
Es ist richtig, dass im Rahmen der vollständigen Angleichung der Renten die jetzige Höherbewertung ostdeutscher Entgelte entfallen würde. Das ist dort, wo schon ordentliche Löhne gezahlt werden, nicht das Problem. Dort , wo noch Niedriglöhne bestehen, müssen wir mit der solidarischen Lebensleistungsrente dafür sorgen, dass die Menschen im Alter mehr haben als die Grundsicherung.
Das Gespräch führte Antje Sirleschtov.
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