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Der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan.
© dpa

Türkisches Verfassungsgericht: Die wahre Opposition in Ankara

Das türkische Verfassungsgericht verwirft Teile der Justizreform von Recep Tayyip Erdogan. Das ist der zweite Schlag gegen den Premier nach der Aufhebung des Twitter-Verbots.

Das türkische Verfassungsgericht bietet Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die Stirn. Nach der Entscheidung zur Freigabe von Twitter vergangene Woche ärgerte das Gericht die Regierung am Freitag erneut, indem es kürzlich eingeführte Machtbefugnisse des Justizministeriums bei der Richter-Bestellung für verfassungswidrig erklärte. Ironischerweise ist die Konfrontation zwischen Regierung und höchstem Gericht eine Folge der demokratischen Reformen Erdogans in den vergangenen Jahren.

Erdogan bezeichnet Vorwürfe als Komplott Gülens

Mit der Entscheidung vom Freitag verwarfen die Verfassungsrichter wichtige Teile einer Justizreform, die zum Vorgehen der Regierung gegen angebliche Feinde im Staatsapparat gehört. Nach Bekanntwerden der Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung im Dezember hatte Erdogan mehrere tausend Polizisten, Richter und Staatsanwälte versetzen lassen, weil sie der Regierung als Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen erschienen; Erdogan sieht die Korruptionsvorwürfe als Komplott Gülens. Die jetzt verworfene Justizreform gab der Regierung mehr Einfluss auf die Ernennung von Richtern und auf Ermittlungen gegen unliebsame Staatsanwälte.

Auch die EU hatte dies als Eingriff in die Gewaltenteilung gebrandmarkt. Das Verfassungsgericht gab nun einer Klage der Oppositionspartei CHP gegen die Neuregelung statt. Parteifreunde Erdogans erklärten wie schon nach dem Twitter-Urteil, man müsse die Entscheidung umsetzen, respektiere sie aber nicht. Erdogan-Kritiker begrüßten das Urteil dagegen als Beitrag zur Erhaltung demokratischer Grundsätze angesichts der Versuche der Regierung, ihre Macht immer mehr auszuweiten. Die Entscheidung gebe der Türkei neue Hoffnung, lobte der regierungskritische Journalist Yavuz Baydar auf Twitter.

Grundsätzliche Kritik der Richter

Erdogans Regierung hatte mit einer Reform vor vier Jahren die Befugnisse des Verfassungsgerichts erweitert. Damals wurde die Zahl der Richter am höchsten Gericht erhöht, zudem wurde das Recht auf Verfassungsklagen durch Einzelbürger eingeführt – eine davon führte zur Freigabe von Twitter. Mit der Erweiterung des Gerichts kamen neue Juristen zum Zuge, die den alten, vom strikten Säkularismus geprägten Richtern den Rang abliefen. Staatspräsident Abdullah Gül, ein politischer Verbündeter Erdogans, sagte, er selbst habe zehn der 17 Richter ernannt, die an der Twitter-Freigabe beteiligt waren. Gerichtspräsident Hasim Kilic steht den islamisch-konservativen Vorstellungen der Erdogan-Partei AKP nahe.

Am Richterpersonal und dessen ideologischer Ausrichtung kann es also nicht liegen, dass Erdogan so viel Gegenwind vom Verfassungsgericht erhält. Es geht vielmehr um Grundsätzliches. Gerichtspräsident Kilic betonte nach der Twitter-Entscheidung, das Gericht stütze sich auf europäische Rechtsnormen – und die kollidieren mit Erdogans Interessen. Die Freiheitsrechte der Bürger sind für die Verfassungsrichter wichtiger als Erdogans Streit mit der Gülen-Bewegung. Damit übernimmt das Verfassungsgericht immer mehr Aufgaben bei der Kontrolle über die Regierung, zu denen die schwache Opposition im Parlament in Ankara nicht in der Lage ist. Erdogans Regierung will deshalb die Befugnisse des Verfassungsgerichts beschneiden.

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