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Das Twitter-Verbot wurde in der Türkei wieder aufgehoben.
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Update

Türkei: Gericht ordnet Aufhebung der Twitter-Sperre an

Kurz vor der vielleicht wichtigsten Wahl seines Lebens musste Ministerpräsident Erdogan eine empfindliche Schlappe hinnehmen. Ein Gericht hob die von ihm verordnete Sprerrung des Kurznachrichtendienstes Twitter auf.

Ein Verwaltungsgericht in Ankara ordnete auf Antrag der türkischen Anwaltskammer, eines Journalistenverbandes und eines Oppositionspolitikers die sofortige Aufhebung der Zugangssperre zum Kurznachrichtendienst Twitter an. Die Regierung sagte eine Umsetzung des Urteils zu, doch blieb der Zugang zu Twitter zunächst weiter gesperrt; einigen Medienberichten zufolge könnte es bis zur Freigabe einen Monat dauern.

Twitter selbst erklärte am Mittwoch, das Unternehme habe die Forderung Ankaras nach Schließung eines Accounts abgelehnt, über den Korruptionsvorwürfe veröffentlicht worden seien. Der Kurznachrichtendienst will jetzt selbst in der Türkei gegen das Verbot klagen. Erdogan hatte kurz vor der Gerichtsentscheidung das Verbot noch einmal gerechtfertigt und indirekt mit einer Sperre für die Videoplattform YouTube gedroht.

Über Twitter und YouTube werden immer neue Korruptionsvorwürfe verbreitet

Twitter und YouTube sind die Hauptinstrumente bei der Veröffentlichung von immer neuen Korruptionsvorwürfen gegen Erdogan, die sich meist auf Mitschnitte von Telefonaten des Regierungschefs stützen. Erdogan hatte Twitter deshalb am vergangenen Freitag in der Türkei sperren lassen, was weltweite Kritik auslöste. In einem Fernsehinterview sagte der 60-jährige Premier am Dienstagabend, solange Twitter die Anordnungen türkischer Gerichte zur Sperrung einzelner Inhalte nicht befolge, bleibe das Verbot in Kraft. Erdogan sprach von Klagen gegen etwa 700 Twitter-Beiträge, darunter offenbar auch die Hinweise auf die Telefonmitschnitte.

Verstöße gegen demokratische Prinzipien vermag Erdogan in seinem Vorgehen dennoch nicht zu sehen. Als er in dem Fernsehinterview über das Twitter-Verbot sprach, zog der Regierungschef einen Vergleich mit den Zuständen in europäischen Ländern und überraschte mit der Feststellung: "Was die Freiheitsrechte betrifft, sind wir sehr viel weiter als die meisten EU-Mitglieder."

Erdogan ist stark, aber reicht das?

Sätze wie diese bringen Erdogan-Gegner auf die Palme, doch die religiös-konservative Stammwählerschaft des Premier steht unbeirrt hinter ihm. Der Ausgang der Kommunalwahlen am Sonntag, die nach den Gezi-Protesten, dem Korruptionsskandal und dem Twitter-Verbot einer Volksabstimmung über Erdogan gleichklommen, ist offen. Umfragen sagen Verluste für Erdogans Regierungspartei AKP voraus, die ihre Position als stärkste politische Kraft im Land aber wohl erhalten kann.

Ein Besuch in einem Teehaus in einem kleinbürgerlichen Viertel von Istanbul zeigt, warum Erdogan nach wie vor so stark ist. Hier wohnen Arbeiter und kleine Handwerker, die meisten stimmen für die AKP. "Die Sache mit der Korrupution glauben wir nicht", sagt Mehmed Kahraman, der seinen Freunden beim Kartenspiel zuschaut. "Da steckt Israel dahinter", ruft einer empört dazwischen. Erdogans Twitter-Verbot wird ebenfalls gutgeheißen. "Wir sind ein muslimisches Land, solche Sachen mögen wir nicht."

Für Erdogan steht viel auf dem Spiel. "Dies ist keine Kommunalwahl, es herrscht eine Atmosphäre wie bei einer Parlamentswahl", sagt der Premier selbst. Die Umfragen sehen die AKP irgendwo zwischen 35 und 45 Prozent. Alles unter 38,8 Prozent, dem Kommunalwahlergebnis der AKP im Jahr 2009, wäre für Erdogan nach eigener Darstellung eine Niederlage.

Gekämpft wird mit harten Bandagen. Laut den Enthüllungen im Internet hat Erdogan ein illegales Vermögen angehäuft, Gerichtsverfahren beeinflusst und Medien unter Druck gesetzt. Der Premier kontert mit dem Vorwurf, Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen hätten sich gegen seine Regierung verschworen und verbreiteten deshalb Lügen und die Mitschnitte illegal abgehörter Telefonate.

Hinter der heftigen Wahlschlacht wird eine Polarisierung der türkischen Gesellschaft sichtbar, die sich schon bei den Protestdemonstrationen gegen eine Bauvorhaben Erdogans im Gezi-Park im vergangenen Jahr bemerkbar machte. Für einen Teil des Landes ist der zunehmend autoritäre Stil des seit elf Jahren regierenden Premiers ein Alarmzeichen, für den anderen Teil ist er ein Segen.

Das Land ist gespalten

Gegner Erdogans befürchten, dass der Autoritarismus des Premiers die Grundlagen der Demokratie wie die Gewaltenteilung zerschlägt. "Er versucht, das Land ganz alleine zu regieren", sagte Sahin Alpay, ein Politologe und Kolumnist der regierungskritischen Zeitung "Zaman", in Istanbul. Die Kritik am Ministerpräsidenten werde auch nach der Wahl nicht aufhören, früher oder später werde es einen Aufstand in der AKP geben, sagte Alpay. "Diese Wahl ist der Anfang vom Ende des Herrn Erdogan."

Die Anhänger des Ministerpräsidenten sehen das naturgemäß ganz anders. Erdogan sei der herausragende politische Führer der Türkei der letzten hundert Jahre, schwärmte Familienministerin Aysenur Islam vor wenigen Tagen. Für sie ist Erdogan demnach schon jetzt bedeutender als Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk.

Aber eben nur für sie, für Millionen ihrer Mitbürger ist Erdogan inzwischen ein großes Problem. Ein bloßes "Weiter so" erscheint deshalb unmöglich. Erdogan hat im letzten halben Jahr zu viele Gruppen der türkischen Gesellschaft vor den Kopf gestoßen. Ein durch Korruptionsvorwürfe erheblich angeschlagener Ministerpräsident, der dennoch einen Teil des Landes hinter sich hat – diese Konstellation wirft für das Land schwierige Fragen auf.

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