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Thüringens SPD-Chef Wolfgang Tiefensee beim Start der Kampagne für die Landtagswahl im Oktober.
© imago/Roman Möbius

Thüringens SPD-Chef Tiefensee: "Die Wählerschaft im Osten fühlt sich keiner Partei verpflichtet"

Wolfgang Tiefensee, SPD-Spitzenkandidat in Thüringen, zweifelt am Fortbestand der Groko im Bund - und wünscht sich eine bessere Einbindung von Sigmar Gabriel.

Herr Tiefensee, müsste Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow nicht eigentlich in der SPD sein?

Nein. Wir haben gutes eigenes Personal. Er ist Ministerpräsident, steht für die Linkspartei und für seine Fraktion. Er ist ein Mann mit einer eigenen Meinung und eigenem Kopf. Ich wünschte mir, dass er einmal mehr seine Fraktion und seine Partei von dem überzeugt, was er für richtig hält.

2014 ist Ramelow angetreten mit dem Anspruch, dass sich Die Linke und ihre Koalitionspartner SPD und Grüne auf Augenhöhe begegnen. Hat er das umgesetzt?

Ja, und das rechne ich ihm hoch an. Am Kabinettstisch gibt es keinen Unterschied, ob die Linkspartei, die Grünen oder die SPD ein politisches Projekt durchsetzen will. Wir diskutieren unter Gleichen. 

Sie selbst haben angekündigt, bei der Landtagswahl im Herbst nicht als Ministerpräsidenten-Kandidat anzutreten, sondern lediglich als Spitzenkandidat. Warum?

Ich halte es für die Thüringer SPD machbar, 2024 den Ministerpräsidenten zu stellen. Dann nämlich, wenn wir 2019 deutlich zugelegt haben. Dafür kämpfe ich. Ich stehe für ehrliche Botschaften: Auf der Basis von 12,4 Prozent aus dem Jahr 2014 ist es unrealistisch, schon in diesem Jahr den Ministerpräsidenten-Posten anzustreben.

Wünschen Sie sich explizit eine Neuauflage von Rot-Rot-Grün?

Ja. Wir machen einen Wahlkampf mit eigenen Kandidaten, 44 sind es für den Landtag, und einem eigenständigen Wahlprogramm. Wir streben die Fortsetzung von Rot-Rot-Grün an. In aller Demut nehmen wir am 27. Oktober die Ergebnisse zur Kenntnis. Sollte es für Rot-Rot-Grün nicht reichen, führen wir Gespräche mit allen anderen Parteien außer mit der AfD.

Thüringens CDU-Chef Mike Mohring sagt: Die SPD verliert in der rot-rot-grünen Koalition. Aber war es nicht auch zuvor als Juniorpartner der CDU schwer für die Sozialdemokraten?

Das Ergebnis von 2014 ist nach einer schwarz-roten Koalition entstanden. Die SPD ist in dieser Koalition nicht gut behandelt worden, was letztlich auch zum Wechsel der Koalitionspartner geführt hat. Wir verlieren nicht durch Koalitionen, sondern dann, wenn wir nicht Glaubwürdigkeit und Vertrauen zurückgewinnen. 

Sie waren 1998 bis 2005 Oberbürgermeister von Leipzig. Vor kurzem ist dort ihr Parteifreund, der langjährige Bundestagsabgeordnete Gunter Weißgerber, nach fast 30 Jahren aus der SPD ausgetreten. Er schrieb zur Begründung: „Wo SPD draufsteht, ist heute so etwas wie SED ohne Mauer, Stacheldraht, Schießbefehl drin.“ Haben Sie Verständnis für das desaströse Zeugnis, das er der SPD ausstellt?

Ich schätze Gunter Weißgerber sehr. Wir haben über eine lange Wegstrecke politische Arbeit gemeinsam geleistet. Er ist ein sehr konservativer Sozialdemokrat. Seiner Meinung, dass wir SED-Politik oder Politik der Linken machen, trete ich ganz entschieden entgegen. Eine Volkspartei wie die SPD hat den Anspruch, Politik für die Vielen und nicht für eine Klientel zu machen.

Beispielsweise fühlen wir uns in der Wirtschaftspolitik genauso den Arbeitnehmern wie auch den Arbeitgebern verpflichtet. Diese breite Aufstellung in allen Teilen der Bevölkerung, über alle Altersgruppen hinweg, im ländlichen Raum genauso wie in der Stadt, bringt es mit sich, dass wir eine Politik machen, die denen nicht gefällt, die nur eine Seite der Medaille sehen. 

Warum läuft es gerade im Osten so schlecht für die SPD?

Der Osten hat eine Wählerschaft, die sich nicht über lange Jahre einer Partei verpflichtet fühlt. Wir haben es mit starken Schwankungen zu tun. Die Politik hat im Osten an Glaubwürdigkeit verloren, weil sie zwar enorme Erfolge vorzuweisen hat, aber zu wenig die Verwerfungen und Verletzungen des Umbruchs in den 90er Jahren im Blick hatte und auch nach 30 Jahren die gleichwertigen Lebensverhältnisse ausstehen. Die soziale Mauer zwischen Ost und West ist noch nicht eingerissen: Unterschiedliche Lohnniveaus bei längerer Arbeitszeit, uneinheitliche Rentensysteme, drohende Altersarmut und abgehängte Regionen.

All das hat zu einer Abkehr auch von der SPD geführt. Bestes Beispiel ist die Wirkung der Arbeitsmarktreform im Osten. Wer Menschen einredet, sie seien unwillig zu arbeiten, wer sich bei Hartz IV auf die nicht aktiven Arbeitslosen fokussiert und mehr fordert als fördert, frustriert die übergroße Mehrheit derjenigen, die nach Arbeit suchen und willig sind. Diejenigen, die Respekt brauchen, wurden so demotiviert. Wenn wir jetzt entschieden umsteuern, werden wir auch wieder Wähler zurückgewinnen.

Dann sind Sie erleichtert, dass sich die SPD gerade von Gerhard Schröder und seiner Agenda 2010 emanzipiert?

Das ist keine Emanzipation. Sondern es geht darum, 15 Jahre nach der Verabschiedung der Agenda 2010 auf die neuen Gegebenheiten zu reagieren. Wir wollen Menschen motivieren, im Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, wollen unsinnige und überzogene Sanktionen abbauen. Wir erkennen die Fehlentwicklungen und beseitigen sie.

Warum ist die AfD im Osten besonders stark, obwohl sich diese Partei immer weiter radikalisiert, gerade in Thüringen unter Björn Höcke?

Die Wählerschaft macht ihr Kreuz bei der AfD aus unterschiedlichen Motiven. Manche sind nationalistisch und explizit rechtsgerichtet, die gibt es in allen Bundesländern. Ich spreche mit denen, die aus Zorn und Protest AfD wählen, ohne sich darum zu kümmern, ob diese Partei gut für sie ist und ob sie ihre proklamierten Ziele umsetzt.

Letztere finden sich in Ostdeutschland, weil die Verletzungen der Umbruchjahre nachwirken und es hier besonders viel Unmut gibt. Zu viele treibt die Sorge um, abgehängt zu werden oder in Altersarmut zu geraten. Sie erwarten schnelle, einfache Lösungen und achten mühsame demokratische Prozesse gering. Hinzu kommt der Wegzug junger Familien und von jungen, hoch qualifizierten Arbeitnehmern in den 90er Jahren. Sie fehlen, wenn es um Toleranz und Aufgeschlossenheit geht. 

Ein Wort noch zu Sigmar Gabriel...

Ein hervorragender Politiker. Gut, dass wir ihn in unseren Reihen haben. Ich wünsche mir, dass er weiter und noch besser eingebunden wird und sozialdemokratische Politik gestalten kann. 

Gabriel hat vor ein paar Wochen den Ausstieg aus der großen Koalition im Bund empfohlen. Teilen Sie seine Position?

Dass die Jamaika-Koalition 2017 nicht zu Stande kam, weil die FDP vom Verhandlungstisch geflohen ist, hat uns in eine schwierige Lage gebracht. Die SPD hat in den vergangenen Monaten wichtige sozialdemokratische Kernprojekte durchgesetzt, unsere Regierungsbeteiligung hat sich für viele konkret ausgezahlt. In der Mitte der Legislatur ziehen wir Bilanz. In Frage steht, ob sozialdemokratische Politik auch in Zukunft in dieser Konstellation möglich ist. An diesem Maßstab wird sich unsere Entscheidung ausrichten, ob die Groko fortgesetzt wird. Groko um jeden Preis - nicht mit der SPD.

Wolfgang Tiefensee (64) ist seit März 2018 SPD-Vorsitzender in Thüringen. Seit 2014 gehört er als Wirtschafts- und Wissenschaftsminister zum Kabinett des Linken-Politikers Bodo Ramelow. Von 1998 bis 2005 war der gebürtige Geraer Oberbürgermeister von Leipzig, anschließend vier Jahre lang Bundesverkehrsminister und Beauftragter der Bundesregierung für die neuen Bundesländer. Das Gespräch führte Matthias Meisner.  

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