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Rot-Rot-Grün. Blumen für Bodo Ramelow.
© dpa

Bodo Ramelow in Thüringen: Geschichte für sich

Plötzlich scheint die Luft zum Atmen knapp – und keiner ist mehr sicher, wie die Sache ausgeht. Erst der zweite Wahlgang macht Bodo Ramelow zum ersten linken Ministerpräsidenten des Landes. Und nicht nur daran zeigt sich, dass nichts an diesem Tag Routine ist.

Olaf Möller hat schon mal den Blumenstrauß hereingeholt. Der hochgewachsene stellvertretende Fraktionsgeschäftsführer der Thüringer Grünen schlüpft kurz aus dem Plenarsaal, während der erste Wahlgang ausgezählt wird, und gleich wieder rein mit einem Eimer voller Sonnenblumen. Möller wirkt entspannt und ein wenig spitzbübisch, wie er den Blumeneimer unter einen Tisch schiebt. Das war vor sechs Minuten. Jetzt blickt er starr vor sich hin. Landtagspräsident Christian Carius hat das Wahlergebnis verlesen. Eine ungültige Stimme, eine Enthaltung, 45 Ja-Stimmen. Die Konsequenz kennt jeder, Carius muss sie der Form halber trotzdem verkünden: Der Landtagsabgeordnete Bodo Ramelow, Die Linke, hat die Mehrheit zur Wahl des Ministerpräsidenten „nicht erreicht“. Hier soll heute eigentlich Geschichte geschrieben werden. Aber auf einen Schlag scheint die Luft zum Atmen zu knapp. Plötzlich ist keiner mehr sicher, wie sie ausgeht, diese Geschichte. Die Blumen waren zu früh im Saal.

Ein Beinahe-Patt

Das Verrückte ist, dass mit genau dieser Situation alle rechnen mussten, aber trotzdem nur wenige daran glaubten. Seit der Landtagswahl im September herrscht im Lande Thüringen ein Beinahe-Patt zwischen beinahe allen denkbaren Lagern. Die alte große Koalition aus CDU und SPD hatte nur noch 46 der 91 Abgeordneten, die denkbare Alternative von links kam ebenfalls nur auf genau die eine Stimme Vorsprung. Die Suche nach einer neuen Regierungsmehrheit verlief kompliziert, ja verworren. Den Wust an Angeboten, Gegenangeboten und Lockversuchen hinter den Kulissen zu erhellen, wird mal eine Aufgabe für Historiker.

Das Ergebnis der Suche ist am Freitag im Erfurter Landtag zu besichtigen, einem modernen Zweckbau, den man mit seinen großen Fenstern von außen für die Abgeordnetenturnhalle halten könnte. Im Plenarsaal füllen Linke, Grüne und SPD die eine Hälfte des Runds von Holzbänken, die CDU und die „Alternative für Deutschland“ die andere. Kurz vor zehn Uhr schlendern sie in den Saal. Noch deutet wenig auf einen historischen Moment hin. Aber Gregor Gysi ist natürlich nicht extra aus Berlin hergekommen, weil der Linken-Fraktionschef in der Provinz nach dem Rechten sehen will und der Linken-Bundeschef Bernd Riexinger ebenso wenig. Von Al Dschasira zu schweigen. Ein Korrespondent des Nachrichtensenders hat am Abend vorher den Grünen-Vorsitzenden im Erfurter Stadtrat in heillose Verwirrung gestürzt, weil der arme Ratsherr nicht wusste, wieso ausgerechnet er der arabischen Welt die politische Lage in Thüringen erklären sollte. Der Korrespondent wusste es aber auch nicht.

Nichts ist Routine

Und dann gibt es noch einen kleinen Hinweis darauf, dass hier nichts Routine ist. Der AfD-Vize Stephan Brandner hat vor sich eine tiefrote Aktenmappe liegen. Obendrauf glänzt golden das Staatswappen der DDR. Brandner meint das natürlich irgendwie ironisch. Aber es ist kein Spaß. Durch diesen Landtag gehen tiefe Risse, und sie wurzeln in Geschichte.

Der Donnerstagabend ist bitter kalt. Vorgestern hat es geschneit. Auf dem Rasen liegen noch Reste. Auf der Straße am Landtag ist ein Miet-Lkw notdürftig zur Bühne umgebaut worden. Von hinten liefert ein ehemaliges Feuerwehrauto Strom aus einem rasselnden Generator. Der Oldtimer, Typ Polyma, gehört Stefan Sandmann. Sandmann ist Mitglied der SPD, noch jedenfalls. Er wird später von der Bühne herab seine Parteifreunde beschwören, dem Abgeordneten Bodo Ramelow ihre Stimme zu verweigern. „Jeder einzelne SPD-Abgeordnete kann die Ehre wiederherstellen!“ ruft Sandmann in die Nacht und in den kleinen Wald von Plakaten vor der Bühne.

Sie waren Helden. Und jetzt sollen die anderen wieder an die Macht?

„Stasi raus“ steht da und „SPD und Grüne – die neuen Blockflöten“ und „Das Volk sagt Nein zu Rot-Rot-Grün“. Das Volk sind vielleicht 2000 Menschen, ältere zumeist. Die AfD-Spitze ist auch da, fällt aber in ihren dunklen Wintermänteln nur auf, wenn Kamerascheinwerfer sie beleuchten. Die Menschen tragen Kerzen in der Hand, die zum Schutz gegen Wind und für die Hände in Pappbechern stecken. Im Gesicht tragen die Menschen eine bittere Enttäuschung. Viele sind ein paar Stunden vorher noch einmal zur ehemaligen Stasi-Zentrale gegangen. Auf den Tag genau vor 25 Jahren hat das Volk die Zentrale der Unterdrückung besetzt. Viele von denen waren dabei, die jetzt in der Kälte stehen und feuchte Augen kriegen, als von der Bühne herab Beethovens „Ode an die Freude“ vom Band läuft, die inoffizielle Hymne der Revolution.

Sie waren Helden oder jedenfalls auf der Seite der Helden. Und jetzt sollen die anderen wieder an die Macht? Die Weltpresse, die Bundespolitik guckt auf Bodo Ramelow, den bekennenden Christen, den gemäßigten West-Linken, den Mann ohne DDR-Vergangenheit, der es durchgesetzt hat, dass das Wort „Unrechtsstaat“ in der Präambel zum Koalitionsvertrag steht. Die Menschen hier kennen aber auch die anderen, denen das Wort bis heute nur verquast über die Lippen geht, solche wie die Abgeordnete Ina Leukefeld, im früheren Leben „IM Sonja“. „Stasi raus!“ rufen die Demonstranten. Es geht hier um ihre Geschichte.

"Keine Gewalt!"

Bei der ersten Demo vor ein paar Wochen haben sie sogar noch Parolen gegen Ramelow gerufen. Diesmal bittet der Organisator, auf persönliche Attacken zu verzichten. Der alte Bürgerrechtler Matthias Büchner liest den Brief Wolf Biermanns vor, in dem der Sänger noch einmal vor einer „Gespensterhochzeit“ warnt. Büchner, dessen einstmals schwarzer Rauschebart schüttergrau geworden ist, beendet seinen Auftritt mit einer Erinnerung: „Keine Gewalt!“ Das war bekanntlich die Parole, mit der die Bürgerrechtler auf den Straßen die Staatsmacht bezwangen. Dass Büchner es für nötig hält, damit seine alten Mitkämpfer zu ermahnen, sagt viel aus über die Zustände.

Es gibt hier nämlich keineswegs nur die friedliche Demonstration der Enttäuschten. Es gibt zum Beispiel auch den SPD-Fraktionsvorsitzenden Matthias Hey. Hey sollte Innenminister werden, hat aber abgewunken. Er wollte, sagen Leute, die ihn gut kennen, kein Leben unter Dauer-Polizeischutz. Schlimm genug, dass seine Frau als „Kommunistenhure“ beschimpft worden ist. Der Kampf um die Geschichte kann hässliche Züge annehmen.

Auf Bodo Ramelows Schreibtisch in seinem Abgeordnetenbüro liegen zwei Nummernschilder. Der Oberlinke ist neulich zu schnell gefahren, anschließend konnte jeder in der „Bild“-Zeitung sein Kennzeichen lesen: EF-DL 56. Er hat es gleich austauschen lassen. Jetzt dienen die alten Schilder als stummer Beweis für die Art von Anfeindungen, mit denen man leben muss als designierter erster linker Ministerpräsident der Republik.

Keine Angst vor dem Radiowecker

Dabei tut Ramelow doch alles dafür, das historische Ereignis zum Normalfall herunterzumoderieren. Thüringen ein Modellprojekt für eine rot-rot-grüne Entspannung auch in Berlin? „Für die Bundespolitik heißt das erst mal gar nichts“, sagt Ramelow. „Das heißt was für den Abwasserzweckverband.“ So ähnlich sagt der 58-Jährige das seit Wochen. Neulich im „Spiegel“-Interview war er dazu als Mann mit Hund im Arm abgebildet. „Attila“ ist keine Drachenbrut, sondern ein sehr netter Jack-Russell-Terrier. Er soll beglaubigen, dass Herrchen nicht beißt.

Am Tag vor der Wahl freut sich Ramelow jedenfalls schon darauf, dass er am Tag danach keine Angst mehr vor dem Radiowecker haben müsse, der mit den Frühnachrichten die nächsten Gerüchte und Hiobsmeldungen liefern könnte. Seine Mitarbeiter haben ihm geraten, er soll doch den Wecker auf fünf nach voll stellen, dann sind die Nachrichten vorbei.

Aber dann würde er, andererseits, das jüngste Gerücht nicht kennen. Es wimmelt vor Gerüchten und Verdächtigungen in Erfurt, jeder kennt welche, und jeder ist sofort bereit, sie zu glauben. Von einer SPD-Abgeordneten handeln sie, der angeblich 250 000 Euro geboten worden sein sollen für ihre Stimme gegen Ramelow. Der Landtagspräsident Carius, ein Christdemokrat, hat neulich im Ältestenrat die Flüsterparole aufgegriffen, die Linken wollten ihre Wahlzettel in der Kabine mit dem Handy ablichten als Beweis ihrer Treue. Carius hat gewarnt, dass die Wahl dann ungültig wäre. Am Donnerstagabend steht ein Linken-Mann am Rand der Demo gegen seine künftige Regierung, registriert befriedigt, dass die Teilnehmerzahl weit unter den angekündigten 10 000 geblieben ist, und kolportiert nebenbei, dass der CDU-Fraktionschef Mike Mohring am nächsten Tag heimlich Ramelow mitwählen werde, um zu verhindern, dass es zum dritten Wahlgang kommt.

Ramelow schreibt doch noch Geschichte, um Punkt 10.49 Uhr

Am Freitagvormittag schlendert dieser Mike Mohring im betont lässigen Lümmelschritt zur Wahlkabine. Mohring ist der starke Mann der CDU. Sein Problem ist nur, dass Stärke ein sehr relativer Begriff ist. Die CDU hat Thüringen seit der Wende regiert. Doch der Versuch, die vom Wähler dezimierte SPD zur Fortsetzung der Koalition zu bewegen, ist gescheitert und nicht nur an der Ex-Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht und ihrem oft rauen Umgang mit den Sozialdemokraten. Mohring hat Lieberknecht verdrängt. Danach hat er sich verzockt. Und das liegt am dritten Wahlgang.

Wir erinnern uns: Eine Stimme zu wenig – und schon ist Ramelow im ersten Wahlgang nicht gewählt. Im zweiten gelten die gleichen Regeln. Erst im dritten reicht eine einfache Mehrheit. Die CDU hat knapp drei Wochen gebraucht, bis sie von „Wir schicken einen Gegenkandidaten ins Rennen“ über „keinen Gegenkandidaten“ zu „Wir schicken erst im dritten Wahlgang einen Gegenkandidaten ins Rennen“ gelangte; und das sollte nicht etwa Mohring sein, sondern der parteilose Jenaer Ex-Uni-Rektor Klaus Dicke. Die Idee kam von Ex-Landesvater Bernhard Vogel.

Merkel findet Rot-Rot-Grün in Erfurt unerfreulich

Die CDU hatte nämlich ein Problem – und Mohring ganz besonders. Der Kandidat Dicke hatte nur eine Chance, wenn die AfD ihn mitwählt. Mohring steht im Verdacht, ein Zusammenspiel mit den Rechtspopulisten ohnehin für eine gute Idee zu halten. AfD-Chef Björn Höcke hat ihn dafür schon hinterlistig als „jungen Stürmer“ gelobt und die elf Stimmen seiner Partei angeboten.

Nur hat Mohring als Mitglied des CDU-Bundesvorstands für das genaue Gegenteil gestimmt: keine Zusammenarbeit mit der AfD. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel hat ihn sehr deutlich daran erinnern lassen. Merkel findet Rot-Rot-Grün in Erfurt unerfreulich, schon wegen der bundespolitischen Modellfunktion. Aber eine CDU, die sich erst feierlich von der AfD abgrenzt und deren Dienste bei der nächsten Gelegenheit dann doch in Anspruch nimmt – das wäre eine Katastrophe.

Das Gerücht vom heimlichen Ramelow-Wähler Mohring hat hier seinen Ursprung. Aber wer Mohring am Freitag sieht, wie er durch den Landtag schlenkert, vergisst es gleich wieder. Als der CDU-Mann auf dem Rückweg von der Wahlkabine bei den Linken vorbeikommt, wirft er ihnen zwei Worte zu: „Ihr scheitert!“ Die Linken lachen. Auch Ramelow lächelt fein. Bis zu dem Moment, in dem auch der Grüne Möller erstarrt.

Aber Ramelow schreibt doch noch Geschichte, um Punkt 10.49 Uhr. Der zweite Wahlgang ist ausgezählt, Carius verliest wieder ein Ergebnis. Wieder eine ungültige Stimme. Sie stammt von dem DDR-Staatswappenträger Brandner, der AfD-Mann sagt es später selbst. Aber dann die entscheidende Zahl: Auf den Kandidaten Ramelow entfallen 46 Stimmen. Die Linksfraktion bricht in Jubel aus. Die Grünen freuen sich. Nur bei der SPD wirkt die Freude gequält. Dass die eine Gegenstimme im ersten Wahlgang aus der SPD kam, ist zwar auch ein Gerücht, aber ein plausibles. Die älteste Volkspartei ordnet sich einem linken Ministerpräsidenten unter – das macht ihnen zu schaffen. Außerdem, vor 25 Jahren haben sie ja an der Seite der Leute gestanden, die sie jetzt da draußen als neue Blockparteien verächtlich machen. Selbst als Ramelow in seiner ersten kurzen Ansprache nach der Vereidigung die SPD-Ikone Johannes Rau als Vorbild zitiert – „Versöhnen statt spalten“ –, klatscht die Linke weit enthusiastischer als die SPD. Bodo Ramelow hat den Eid übrigens ohne die religiöse Formel gesprochen, jemand brüllt sie ihm giftig aus dem Saal entgegen: „So wahr mir Gott helfe!“

Mike Mohring aber hängt in seinem Sitz, als habe ihm jemand die Luft rausgelassen. Draußen sagt derweil Gregor Gysi, dass es bis zu Rot-Rot-Grün im Bund noch ein weiter Weg sei. Aber, andererseits: „Heute hat uns diese Entscheidung nicht geschadet – im Gegenteil.“

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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