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Die türkische Familienministerin Fatma Betül Sayan Kayanach ihrer Ankunft auf dem Atatürk-Flughafen in Istanbul.
© AP/dpa

Konflikt mit Europa: Die Türkei empört sich über die "Nacht der Schande"

Die Eskalation zwischen Ankara und den europäischen Regierungen inszeniert der türkische Präsident Erdogan zugunsten seiner Pläne für ein Präsidialsystem.

Die Nacht war lang und wohl die aufwühlendste in ihrer politischen Karriere. Doch die 37-jährige Bildungs- und Familienministerin lässt sich ihr Erschöpfung nicht anmerken. Sie blafft nicht ins Mikrofon wie ihre männlichen Kollegen, sie stößt keine wilden Drohungen gegen die Europäer aus, als sie am Sonntagvormittag am Flughafen Atatürk in Istanbul in einer schnell einberufenen Pressekonferenz den Journalisten gegenüber sitzt.

Fatma Betül Sayan Kaya berichtet von dieser Reise, die vor einem Polizeikordon endete – 30 Meter entfernt vom türkischen Konsulat in Rotterdam – und das Verhältnis zwischen der EU und der Türkei in seine bisher tiefste Krise stürzt.

„Hässlich“ und „unmenschlich“ sei sie behandelt worden, stellt die türkische Familienministerin fest. Nach eineinhalb Stunden Diskussionen mit den Polizisten vor dem Konsulat wurde Kaya am frühen Sonntagmorgen zurück zum Grenzübergang Nimwegen nach Deutschland eskortiert, von wo sie losgefahren war.

Die Krise bringt der Türkei neue Helden

„Eine Nacht der Schande“ für die Niederlande und für Europa nennt es der türkische Energieminister, der neben Kaya sitzt. Organisiert hat den eindrucksvollen Auftritt der einzigen Frau der Regierung ihr Ministerkollege Berat Albayrak, Schwiegersohn des türkischen Staatschefs. Es scheint ein Wochenende zu sein, an dem neue türkische Helden geboren werden und Günstlinge Recep Tayyip Erdogans sich weiter nach vorn schieben können.

Auch Mevlüt Çavusoglu gehört dazu, der schnell aufbrausende und bei seinen Auftritten eindrucksvoll wetternde Außenminister, mit dessen Auftrittsverboten und Reiseannullierung am Wochenende alles begann. Und der Mann, der am Sonntag auf das Dach des niederländischen Generalkonsulats in Istanbul klettert und die türkische Fahne hisst: „Allah ist groß!“, ruft er von dort.

Eine Entschuldigung werde nicht reichen, sagt Çavusoglu am Sonntag – wobei er offen lässt , welche anderen Formen der Wiedergutmachung er von den Niederländern erwartet. Da ist Çavusoglu schon bei seinem nächsten Auftritt vor türkischen Wählern in Europa, in Frankreich. Auf dem lothringischen Flughafen Metz- Nancy durfte er nachts immerhin landen.

Jetzt herrscht so etwas wie Kalter Krieg zwischen Ankara und Den Haag. Der türkische Botschafter ist zurückberufen worden, der niederländische war im Urlaub und darf nicht in die Türkei zurück. Die neue Krise beschleunigt die Abkehr Ankaras vom Westen. Erdogans Gegner warnen, die aufgeputschte Stimmung nutze vor allem nationalistischen Kräften, sowohl in Europa als auch in der Türkei.

Erdogan poltert - was er meint, lässt er offen

Die Äußerungen des Präsidenten zeigen, dass der Riss weit tiefer ist als eine tagespolitische Verstimmung. Seine Drohungen Richtung Europa sind wenig konkret, seine Worte aber unversöhnlich und hart. Was nach dem Vorwurf, in der EU würden demokratische Werte mit Füßen getreten, und nach Begriffen wie „Faschismus“, „Nazis“ oder der Drohung mit „Konsequenzen“ noch kommen soll, wie konkret europäische Länder „den Preis bezahlen“ sollen, wie die Türkei „ihnen internationale Diplomatie beibringen“ will – das sagt Erdogan nicht.

Der Höhepunkt der Krise ist womöglich noch gar nicht erreicht. Denn auch über einen eigenen Wahlkampfausflug nach Westeuropa vor dem 16. April sagt der Präsident bisher nichts. Möglicherweise wartet er ab, um möglichst großes Aufsehen bei potenziellen Wählern zu erregen.

Vorerst betont er die wachsenden grundsätzlichen Differenzen zwischen seinem Land und dem Westen. Der EU-Beitrittsprozess der Türkei kommt bereits seit Jahren kaum noch voran; Erdogan verstärkt stattdessen seine Kontakte zu Mächten wie Russland. In der Berichterstattung westlicher Medien über den türkischen Putschversuch des vergangenen Jahres sei die Enttäuschung über dessen Scheitern klar abzulesen gewesen, betont Erdogan immer wieder. Der Westen sei wegen des Aufstiegs der Türkei beunruhigt. Im Nahen Osten und in Afrika könnten westliche Staaten der Erinnerung an „Blut, Unterdrückung und Schande“ ihrer kolonialen Vergangenheit nicht entfliehen, während die Türkei „ohne jeden Fleck“ in ihrer Geschichte ihren Weg fortsetze.

Seine Grundidee ist nationalistisch

Dahinter steht der türkisch-nationalistische Grundgedanke, dass das Osmanenreich dem Nahen Osten Stabilität und Gerechtigkeit brachte, während die westlichen Staaten aus purem Eigeninteresse in der Region die Saat von Konflikt und Streit säten. Erdogan stellt die Türkei – trotz der Massenverhaftungen und des Drucks auf Andersdenkende – als wahre Demokratie dar, während in Europa die „Islamophobie“ und eine Erosion von Grundrechten um sich greife. Seine Anhänger adaptieren die religiösen Tönen in dem Konflikt: „Wenn die Hunde des Kreuzes bellen, dann sind wir auf dem richtigen Weg“, heißt es auf Facebook. Der politische Islam suche die grundsätzliche Auseinandersetzung mit Kultur, Religion und Werten des Westens, twitterte die Historikerin Ayse Hür.

Die Regierung hat ein Feindbild geschaffen: Europa gegen die Türken. Sehr viele Türken sind empört über die Behandlung ihrer Minister. Selbst die größte Oppositionspartei, die sozialdemokratische CHP, sichert der Regierung „jede Unterstützung“ gegen die Niederlande zu. Mitglieder der AKP-Jugend zeigen, was man mit Holländern macht: Sie pressen Orangen mit der bloßen Hand aus. Die Widersprüche in der Haltung der Regierung zur Demokratie werden kaum thematisiert.

Fünf Wochen sind es noch bis zum Ja oder Nein gegen die Ein-Mann-Regierung Erdogan. Geworben wird dafür mit einem schlichten „Tek“ auf den Plakaten, mit dem Konterfei des türkischen Präsidenten. Das heißt: „allein“.

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