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Alles schaut - immer wieder auf Willy Brandt: Zuhörer in der SPD-Zentrale bei Verkündung des Groko-Votums am Sonntag.
© REUTERS/Hannibal Hanschke

Nach dem Ja zur Groko: Die SPD-Mitglieder sind jetzt erst richtig gefragt

Der Koalitionsvertrag kann diese Republik tiefgreifend verändern. Die SPD-Spitze muss aber Ideen und Lebenswirklichkeit in Einklang bringen - und die Basis weiter einbeziehen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Es gibt ein Zitat des großen alten Sozialdemokraten Kurt Schumacher, das auf die Lage passt: „Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit.“ Und wenn wir jetzt einmal voraussetzen, dass das stimmt – dann liegen alle die falsch, die das Mitgliedervotum der SPD einfach nur kritisieren, ohne auch eine andere, eine positive Seite zu sehen. Das wird aber auf Dauer nicht verfangen. Nicht in der SPD, nicht im Land.

Die Linkspartei, die Grünen, die FDP, die AfD sowieso, sie kritisieren ein „Weiter so“ und eine „Schlummerpolitik“, für die zwei Drittel bei den Sozialdemokraten gestimmt hätten. Betrachten wir dazu noch einmal den Koalitionsvertrag. Wird der jetzt Wirklichkeit, verändert sich die Republik in einer Weise, wie es auch nicht eben oft der Fall ist: tiefgreifend und auf vielen Feldern.

Schon klar, dass das zum Angriff herausfordert. Doch wer die geplanten Veränderungen pauschal ablehnt, macht sich selbst angreifbar. Er setzt sich dem Vorwurf aus, dass es ihm nicht zuerst um die Menschen geht, sondern um sich und den Effekt. Nur als Stichworte: Soli-Abbau plus Steuerentlastung. Das höhere Kindergeld. Mehr Geld für die Bildung vom Bund, wohlgemerkt, inklusive Digitalpakt. Das Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit. Weniger befristete Jobs. Der Kampf ums Rentenniveau, das nicht unter 48 Prozent fallen soll. Die Parität in der Krankenversicherung. Eine verbesserte Mietpreisbremse. Wenig ist das nicht. Und das ist nicht einmal alles. Weiter so? Wer das sagt, schlummert selber.

Streit gehört dazu

Aus der CDU stammt der Satz, dass Politik kein Gesangverein Harmonie sei. Streit gehört dazu. Und Heiner Geißler, Vorbild der heutigen CDU-Generalin Annegret Kramp-Karrenbauer, hat ihn oft genug auch innerparteilich angezettelt. Die SPD nun hat an Inhalten entlang eingehend debattiert, hat sich auseinandergesetzt und dann transparent entschieden. Das kann man auch gut finden. Gerade wenn man meint, dass in der Demokratie Meinungsvielfalt und Meinungsstreit keine Zumutung sind, sondern ein Lebenselixier. Die SPD hat daran geglaubt, sie hat etwas riskiert und im Sinne ihrer Führung gewonnen.

Trotzdem ist da dieses große Aber: Die SPD konnte in den Koalitionsverhandlungen erstaunlich viel durchsetzen – aber ein Drittel ihrer Mitglieder ist unzufrieden. Die Aufgabe für die Zukunft ist also groß. Die Partei darf sich nicht weiter spalten, muss sich über alle Unterschiede hinweg mit sich selbst versöhnen, und soll sich bei alledem zugleich erneuern.

Um die Ideen für eine Gesellschaft von morgen in Einklang zu bringen mit der Lebenswirklichkeit von heute, die durchs Regieren entsteht, braucht es deshalb mehr denn je strategische Führung. Die wiederum ist ein Akt politischer Klugheit. Da gilt es, den Prozess der Mitgliederbeteiligung zu verlängern, um gemeinsam neue Ziele zu definieren, und gleichzeitig ihre Verwirklichung verlässlich, stetig, ja geduldig anzustreben. Viel verlangt von Andrea Nahles.

Beim Bewältigen, nicht nur Betrachten der Wirklichkeit könnte den Sozialdemokraten übrigens ein anderer großer Genosse helfen: Willy Brandt. Der sagte: „Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum – besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“ Es wäre schon ziemlich gut, wenn die SPD wieder auf der Höhe wäre.

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