Berliner Flüchtlingsprogramm scheitert an Seehofer: Die Rhetorik des Innenministers ist unverantwortlich – und wird Folgen haben
Das Konzept Festung Europa bekommt immer mehr Druck von unten. Seehofer muss die Wut der Gesellschaft fürchten. Ein Kommentar.
Horst Seehofer dürfte seine Gründe gehabt haben, erst einmal zu schweigen, als der Berliner Senat ihm sein Flüchtlingsaufnahmeprogramm zuschickte. Auch die Thüringer Landesregierung, die ihm ihres zur Unterschrift geschickt hat, wartet bereits seit anderthalb Monaten auf Antwort aus Moabit – so lange war der Postweg aus Berlin nicht mal, als der Geheimrat Goethe noch 20 Kilometer von Erfurt entfernt Minister in Weimar war.
Seehofers Schweigen sagt mehr als die Absage, die er nach mehrmaligen Berliner Nachhaken nun doch an Innensenator Geisel schickte. Dreihundert Menschen will die Millionenstadt Berlin aus den überfüllten und krankmachenden Lagern der hartgeprüften griechischen Inseln holen.
Und der Bundesinnenminister sagt nein. Er dürfte geahnt haben, dass ihn dieses Nein, ein schriftliches dazu, maximal schlecht aussehen lassen würde.
Die Gründe, die seine Antwort nennt, darf man getrost vergessen: ”Bundeseinheitlichkeit” zum Beispiel. Tja, Deutschland ist ein föderaler Staat, vor allem in Seehofers bayerischer Heimat hält man das üblicherweise hoch. Und einem Ja zu Sonderprogrammen einzelner Länder, etwa für Jesidinnen, die in Syrien verfolgt werden, stand es bisher nicht im Wege, wenn nicht alle Länder mitzogen.
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Das Dublin-System, für das Paragraf 23, Absatz 1 im Aufenthaltsgesetz nicht gemacht sei – Seehofers weiteres Argument – funktioniert seit vielen Jahren und vor den Augen aller nicht. Zu guter Letzt die europäische Gesamtlösung, der man nicht vorgreifen wolle: Das ist nun eine Vokabel, die kein Politiker, keine Politikerin mit etwas Selbstachtung noch in den Mund nehmen sollte.
Selbst Schlechtinformierte dürften sie längst als Euphemismus für “wir machen gar nichts” im inneren Lexikon abgelegt haben.
In Geiselhaft der Geister, die er rief
Kurz gesagt: Gäbe es einen politischen Willen, so wäre der Weg im Fall der Flüchtlinge aus Griechenland autobahnbreit. Aber den gibt es nicht für einen wie Horst Seehofer, der Migration als “Mutter aller Probleme” dämonisiert hat und deswegen eine wachsende Bewegung von unten fürchten muss, die gegenhält: Da kujoniert Europa unter führender Mithilfe Deutschlands schon seit Jahren die kleine private Seenotrettung, bewaffnet eine mehr als zwielichtige libysche Küstenwache, um Menschen von den eigenen Küsten fernzuhalten – und prompt rüsten Bischöfe ein Schiff aus und binnen zwei Jahren erklären sich Hunderte EU-Städte bereit, mehr Migranten als gefordert aufzunehmen.
Fürchten muss Seehofer und nicht nur er allerdings die Geister, die die eigene unverantwortliche Rhetorik erst gerufen hat: Eine radikale und inzwischen parlamentarische Rechte, die die markigen Worte wohl hört und konsequenterweise deutlich mehr Taten, nein immer mehr Taten fordert, eine, die nie zufrieden und nie zu beschwichtigen ist.
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Wer sagt “Multikulti ist absolut gescheitert” (Angela Merkel 2010), wird nicht zufällig so verstanden: weg damit, zurück zum einfarbigen und -sprachigen Deutschland! Dass es das nie gab, will nicht jede und jeder wissen.
Söder musste begreifen - und sein Vorgänger?
Aufrechte Konservative sollten eher die Wut des anderen Teils der Gesellschaft fürchten, die sich mit dem Elend am Rande Europas nicht abfinden will. Nicht einfach – Gott bewahre! - weil sie der bessere Teil sind, sondern weil sie mehr Wählerstimmen haben. Seehofers Nachfolger Söder musste das durch schlechte Umfragewerte kurz vor der bayerischen Landtagswahl 2018 lernen und legte den Hebel um, freilich zu spät.
Seitdem frisst Wolf Söder Kreide und umwirbt die Grünen. Sollte es das wahre Motiv des alten Fuchses Seehofer sein, mit seinem hartherzigen Nein den Kanzlerambitionen des verhassten Nachfolgers zu schaden? Nein,so kühn wollen wir jetzt doch nicht spekulieren.