Länder wollen mehr Flüchtlinge aufnehmen: Seehofer gegen „nationale Alleingänge“
Berlin hat zuerst eine Absage kassiert. Thüringen wartet noch, was der Innenminister zur Aufnahme von Flüchtlingen sagt. Bei einem „Nein“ fehlt der Plan B.
Die Landesregierung von Thüringen hat sich noch nicht entschieden, wie sie mit einem wahrscheinlichen Nein des Bundesinnenministers zu ihrem Aufnahmeprogramm für Flüchtlinge umgehen wird. Gestern war bekannt geworden, dass Berlin sich für sein Programm bereits eine Abfuhr von Horst Seehofer (CSU) geholt hatte: Der rot-rot-grüne Senat wollte 300 Menschen von den griechischen Inseln in der Stadt aufnehmen. Der Innenminister muss derartigen Landesprogrammen sein Einverständnis geben.
Am Donnerstag sagte Seehofer: „Für nationale Alleingänge stehe ich nicht zur Verfügung." „Kein Land der Welt kann die Migration allein bewältigen“, betonte Seehofer. „Umso wichtiger ist es, dass wir bei der europäischen Asylpolitik endlich sichtbar vorankommen. Wir sind auf einem guten Weg und ich bin nicht bereit, das jetzt zu gefährden.“ Es sei unverzichtbar, dass Europa gemeinsam vorgehe.
Thüringen hat seine Landesaufnahmeanordnung Mitte Juni an Seehofer geschickt; eine Antwort, so der Sprecher des Landesjustizministeriums, Oliver Will, gebe es noch nicht – aber auch noch keinen Plan B: "Wir haben um Herstellung des Einvernehmens gebeten“, sagte Will dem Tagesspiegel. „Jetzt warten wir erst einmal auf Antwort."
Früher hatte Seehofer nichts gegen ein Landesprogramm
In seinem Schreiben, das vom 8. Juli datiert, aber wohl erst vor kurzem beim Berliner Innensenator Andreas Geisel eintraf, begründet Seehofer sein Nein mit rechtlichen Bedenken. Für die von Berlin geplante Aufnahme der auf den Inseln gestrandeten Personen seien die Voraussetzungen des Paragraphen 23, Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht erfüllt. Der Paragraph besagt allerdings nur, dass auch Landesbehörden Ausländern den Aufenthalt in Deutschland ermöglichen können, „aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland“. Dem müsse aber das Bundesinnenministerium „zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit“ zustimmen.
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Der Regierende Bürgermeister der Hauptstadt, Michael Müller (SPD), reagierte empört darauf. „Das macht uns im Senat alle sehr wütend“, sagte Müller am Donnerstag dem Sender RBB. Er sprach von einem „politischen Skandal“. Skeptisch äußerte er sich zu den Erfolgsaussichten einer Klage gegen den Bund. Die mitregierenden Grünen und Linken hatten diesen Weg ins Spiel gebracht.
In der Vergangenheit hat Seehofers Haus solchen Programmen seine Zustimmung erteilt, so im Fall einer Gruppe von Frauen, die der jesidischen Minderheit in Syrien angehören. Baden-Württemberg wollte ihnen Schutz bieten und durfte dies auch.
Angst vor Nachahmung?
Jetzt verweist Seehofer darauf, dass „zur Unterstützung Griechenlands bei der Bewältigung der humanitären Lage und insbesondere zur Verbesserung der Situation von Kindern in den Hotspotlagern“ die Bundesregierung bereits einen eigenen Aufnahmebeschluss gefasst habe. Außerdem widerspreche die Berliner Landesaufnahmeordnung dem, was die Konferenz der Innenminister von Bund und Ländern im letzten Jahr zum Thema beschlossen habe.
Dass Seehofer nicht zustimmt, könnte daran liegen, dass er Modellfälle fürchtet. Die Länder haben kürzlich 2100 freie Aufnahmeplätze angeboten; viele Unterbringungen oder Versorgungsinfrastruktur, die seit dem Fluchtsommer 2015 entstand, stehen inzwischen leer oder werden nicht genutzt.
Der Druck auf die deutsche Innenpolitik, wieder mehr Menschen aufzunehmen, steigt seit geraumer Zeit durch die Kommunen. 57 Städte und Gemeinden haben sich in den letzten zwei Jahren einem Bündnis „Sichere Häfen" angeschlossen und fordern, dass sie mehr Menschen etwa aus den überfüllten Lagern der griechischen Ägäis-Inseln aufnehmen dürfen, die dort unter menschenunwürdigen Bedingungen hausen müssen.
Die Bewegung, die in den USA „sanctuary cities“ heißt und dort vor allem Migranten ohne Papiere schützt und versorgt, geht auch in der EU weit über Deutschland hinaus. Auch italienische oder spanische Städte bieten Plätze an, so Palermo auf Sizilien.
Auch etliche osteuropäische Gemeinden wollen anders als ihre nationalen Regierungen Flüchtlinge oder Arbeitsmigrantinnen und – migranten aufnehmen. Potsdams Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD), dessen Stadt das Bündnis sicherer Häfen koordiniert, sagte während einer Anhörung im Bundestag, die Entscheidung werde in den Stadtgesellschaften und Stadträten ausführlich diskutiert, bis sie akzeptiert seien.
EU-Staaten gehen rigoros gegen Fluchtmigration vor
Da sei es „in Novum in der Geschichte der deutschen Kommunalverfassung, dass die, die eine Leistung erbringen müssen, sagen, sie wollten mehr tun, und der Bund sagt: „Ich will aber nicht.“
Die Politik der EU-Länder geht seit einigen Jahren darauf aus, möglichst jede Flucht- und andere unkontrollierte Migration vom eigenen Territorium fernzuhalten – mit immer rigoroseren Mitteln. So werden seit 2018 auch zivilgesellschaftliche Initiativen immer massiver blockiert, die auf eigene Faust und mit eigenen Schiffen Flüchtende im Mittelmeer aus Seenot retten. Vielen drohen Prozesse, teils wegen Unterstützung illegaler Einwanderung. Neuerdings werden auch Schiffe wegen angeblicher technischer Mängel in den Häfen festgehalten und am Auslaufen gehindert.
Auch in den Landesregierungen, die jetzt großzügigere Aufnahmeprogramme beschlossen haben, waren sie nicht unumstritten. Im rot-rot-grün regierten Thüringen stellte sich Ministerpräsident Bodo Ramelows (Linke) kleinere Koalitionspartnerin SPD länger quer, auch in der R2G-Koalition in Berlin fürchten einige, dass nach Seehofers Nein nichts weiter geschehen werde. Die Berliner Grüne Flüchtlingspolitikerin Bettina Jarasch forderte am Mittwoch im Tagesspiegel Innensenator Geisel auf, Seehofer "mindestens eine rechtlich fundierte Antwort" auf seinen Brief zukommen zu lassen.