zum Hauptinhalt
EVP-Fraktionschef Manfred Weber (CSU).
© picture alliance / dpa

EVP-Fraktionschef Manfred Weber: „Die Radikalen leben von der Angst“

Nach der Einschätzung des Brüsseler EVP-Fraktionschefs Manfred Weber sind die Populisten in der EU weiter auf dem Vormarsch. Im Interview erklärt er, wie er das Thema Migration im Europawahlkampf offensiv angehen will.

Herr Weber, in einem Jahr findet die Europawahl statt. Welche Rolle wird im Europawahlkampf das Thema der Migration spielen?

Die Migrationspolitik ist heute die offene Wunde des Kontinents. Wir brauchen Antworten, sonst steht die EU generell zur Debatte. Sie gibt uns auch Anlass, über die Identität des Kontinents nachzudenken: Was macht uns als Europäer aus? Die Migrationsfrage ist schwieriger zu lösen als seinerzeit die Euro-Krise. Deshalb wird sie auch bei der Europawahl 2019 eine entscheidende Rolle spielen.

Die EU-Migrationspolitik gleicht immer noch einer Baustelle. Die Aufstockung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex auf 10 000 Personen soll erst im Jahr 2027 vollzogen sein.

Es ist gut, dass die EU-Kommission diesen Vorschlag gemacht hat. Aber der Ausbau von Frontex muss viel schneller vonstatten gehen. Entscheidend ist dabei aber nicht nur die Personalstärke von Frontex, sondern auch die Frage, in wie weit europäisches Recht durchgesetzt werden kann. Wenn beispielsweise ein Frontex-Beamter nach Griechenland gerufen wird, dann muss er auch in der Lage sein, dort im Notfall das Kommando zu übernehmen.

Ist die geplante Aufstockung auf 10.000 Frontex-Beamte ausreichend?

Ich glaube, dass es schon einmal ein guter Fortschritt wäre, wenn sich die Zahl der Frontex-Beamten von derzeit rund 1500 auf mindestens 10.000 erhöhen würde. Nur müssen die EU-Mitgliedstaaten im nächsten EU-Haushalt die nötigen Mittel zur Verfügung stellen.

Österreichs Bundeskanzler Kurz hat vorgeschlagen, dass Frontex künftig in der Lage sein soll, Migranten schon in Nordafrika an der Überfahrt übers Mittelmeer zu hindern. Was halten Sie davon?

Wir brauchen für jeden einzelnen Staat in unserer Nachbarschaft maßgeschneiderte Lösungen. Wir haben mit der Türkei eine funktionierende Flüchtlingsvereinbarung. Im Fall Marokkos und Tunesiens verfügt die EU ebenfalls über Vereinbarungen, die dazu beitragen, dass aus diesen Ländern kaum Flüchtlinge nach Spanien kommen. Anders sieht die Lage etwa in Libyen aus – dort gibt es keine voll handlungsfähige Regierung. Aber für alle Drittstaaten, mit denen die EU ihre Außengrenze teilt, muss eines gelten: Die Migranten müssen wissen, dass sie abgewiesen werden, wenn sie illegal in die EU kommen wollen. Ich bin für Bestimmtheit. An den EU-Außengrenzen muss für Ordnung gesorgt werden. Und wenn wie im Fall Libyens kein funktionierender Staat als Ansprechpartner vorhanden ist, dann muss die EU in Krisenfällen auch in der Lage sein, in den dortigen Häfen das Ablegen von Flüchtlingsbooten zu verhindern.

Es gibt Staaten, etwa im Maghreb, die bei der Rückführung illegaler Flüchtlinge nur unzureichend kooperieren. Hat die EU eine Möglichkeit, Einfluss auf diese Länder zu nehmen?

Bei den Rückführungsabkommen zwischen der EU und den Nachbarstaaten hat die derzeitige EU-Kommission leider keine großen Fortschritte erzielt. Deshalb muss es spätestens nach der nächsten Europawahl einen Neustart geben. Wir müssen unsere Kräfte bündeln und brauchen gesamtheitliche Ansätze. Es reicht künftig nicht mehr aus, wenn wir uns mit dem Innenminister eines Herkunftsstaates zusammensetzen und dann über Migrationspolitik reden. Wir müssen auch klarstellen, dass eine Verweigerung bei der Rückführung illegaler Flüchtlinge auch Einfluss auf die Handelspolitik hat.

Sollen Staaten, die nicht kooperieren, künftig keinen Zugang mehr zum EU-Markt bekommen?

Wir können auf Dauer als Europäer nicht in Frieden und Freiheit leben, wenn es Afrika nicht gut geht. Wir als EVP wollen Handelspartnerschaften und die Entwicklungshilfe stärken. Aber es muss auch klar sein: Diese verstärkte wirtschaftliche Kooperation kann es nur mit Partnern geben, die auch bei unseren Belangen – also der Rücknahme der illegalen Migranten – mithelfen.

Sollte sich die EU nicht andererseits bei der legalen Migration im Punkt der Ansiedlung von Flüchtlingen im Zuge der so genannten Resettlement-Programme großzügiger zeigen?

Mit derselben Entschlossenheit, mit der ich den verstärkten Schutz der EU-Außengrenze fordere, sage ich auch: Unser Kontinent muss hilfsbereit bleiben. Die Ansiedlung von Flüchtlingen im Rahmen der Resettlement-Programme der Vereinten Nationen sind das richtige Instrument, um diese Hilfsbereitschaft zu demonstrieren. Dabei muss es begrenzte Kontingente und feste Kriterien geben. Beispielsweise ergibt es Sinn, dass diejenigen aus den Flüchtlingslagern nach Europa geholt werden, die einen hohen medizinischen Bedarf haben – und nicht überwiegend junge Männer. Der Staat entscheidet, wer kommen kann – und nicht Schlepperbanden.

Sollen sich an diesen Resettlement-Programmen alle EU-Staaten beteiligen, also auch Polen und Ungarn?

Alle sollten bei dem Resettlement-Programmen dabei sein. Ich glaube, dass niemand in der EU am Ende sagen kann: Ich verweigere mich bei der Hilfe von Menschen in Not. Jeder muss seinen Beitrag leisten bei der Frage der Hilfsbereitschaft im Inneren der EU. Das gilt insbesondere für einen Kontinent, der sich auch christlich nennt.

Hilft es bei der sachlichen Bearbeitung des Migrationsthemas, wenn Ungarns Regierungschef Orban – immerhin ein Mitglied der EVP-Parteienfamilie – behauptet, in Europa gehe ein „Bevölkerungsaustausch“ vonstatten?

Es ergibt keinen Sinn, jetzt einzelne Aussagen zu kommentieren. Es wird darauf ankommen, dass sämtliche EU-Staaten jetzt den Willen zeigen, in der Migrationsfrage zusammenzuarbeiten. Ich habe bei der zurückliegenden Klausurtagung der EVP-Fraktion in München eine Kanzlerin erlebt, die die Hand ausstrecken will – gerade gegenüber den Staaten in Mittel- und Osteuropa. Das erwarte ich von diesen Staaten genauso. Die Lösung kann nur lauten: Wir müssen bereit sein, Brücken zwischen den unterschiedlichen Auffassungen der EU-Staaten zu bauen.

Wo verläuft in Ihren Augen die Grenze zwischen Populismus und einer sachlichen Behandlung des Migrations-Themas?

Wir als Europäische Volkspartei müssen uns den Sorgen der Menschen zuwenden. Wenn die Migration die größte Sorge ist, dann müssen wir klare Antworten liefern. Für uns geht es darum, dass wir Ergebnisse liefern. Der Unterschied zwischen uns und den Populisten lässt sich so ausdrücken: Wir sind eine Partei, welche auf Lösungen und die Zukunft setzt – und die Radikalen leben von der Angst.

Befürchten Sie, dass Rechtspopulisten wie die Lega oder die parteipolitisch schwieriger einzuordnende Fünf-Sterne-Bewegung europaweit bei der nächsten Europawahl noch stärkeren Zulauf bekommen werden?

Der Radikalismus in all seinen Facetten, der die länderübergreifende Zusammenarbeit ablehnt, ist in Europa nach wie vor auf dem Vormarsch. Deshalb wird es 2019 bei der Europawahl um eine Grundfrage geben: Gelingt es uns, den Gedanken des Miteinanders und der Partnerschaft weiter am Leben zu erhalten? Eine unserer Antworten lautet: Wir müssen aufhören, zwischen guten und schlechten Europäern zu unterscheiden.

Sie selbst werden als möglicher Spitzenkandidat der EVP für die Europawahl gehandelt. Wäre ein Parlamentarier wie Sie für das Amt des Kommissionspräsidenten besser geeignet als ein Regierungschef, der üblicherweise diesen Posten erhält?

Es gibt für beide Wege gute Argumente. Unabhängig von dieser Frage: Ich persönlich stehe für einen europäischen Parlamentarismus. Ich glaube, dass wir die Distanz zwischen den Bürgern und der „black box“ Brüssel, die für viele nicht zu verstehen ist, überwinden müssen. Diese Distanz lässt sich nur durch Abgeordnete und Parlamente überbrücken. Wir brauchen eine Re-Parlamentarisierung des Kontinents. Das ist meine Mission als Abgeordneter, dafür stehe ich.

Was Weber von den Vorschlägen Macrons und Merkels hält

Frankreichs Präsident Macron und Kanzlerin Merkel beim G-7-Gipfel im kanadischen La Malbaie.
Frankreichs Präsident Macron und Kanzlerin Merkel beim G-7-Gipfel im kanadischen La Malbaie.
© AFP

Frankreichs Präsident Macron lehnt das Verfahren, dem zufolge der siegreiche Spitzenkandidat automatisch Kommissionspräsident wird, ab. Was sagen Sie dazu?

In seiner Rede im Europaparlament hat Präsident Macron das Spitzenkandidaten-Verfahren nicht abgelehnt. Er hat es lediglich ergänzt um weitere Ideen. Ich glaube, dass auch er für eine Demokratisierung Europas steht. Ich gehe davon aus, dass er offen dafür ist, dass das direkt gewählte Parlament der Bürger Europas eine entscheidende Stimme sein muss bei der Wahl des Kommissionspräsidenten.

Bundeskanzlerin Merkel unterstützt Macron beim Aufbau einer europäischen Interventionstruppe. Braucht Europa langfristig nicht noch viel mehr - nämlich eine eigene europäische Armee?

Kurzfristig ist der Ansatz von Angela Merkel und Emmanuel Macron, eine Interventionstruppe aufzustellen, der richtige Weg. Mittel- bis langfristig müssen wir uns aber der Idee einer europäischen Armee zuwenden. Bei den modernen Formen der Verteidigung dieses Kontinents – also bei der Entwicklung von Drohnen und bei der Cyberabwehr – müssen wir gleich von Anfang an viel früher schon nicht in nationalen Kategorien denken, sondern europäisch.

Bis wann soll dies konkrete Formen annehmen?

Bis zum Jahr 2030 sollte in Teilen eine europäische Armee angestrebt werden. Die Welt wartet nicht auf uns. Wir spüren ja heute schon, dass Russlands Präsident Putin bereit ist, mit militärischen Mitteln politische Ziele zu erreichen. Wir hatten eigentlich gedacht, dass dies nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa undenkbar ist. Aber dennoch ist es heute Realität.

Ist der Vorschlag von Finanzminister Scholz für eine europäische Rückversicherung der nationalen Arbeitslosenversicherungen sinnvoll?

Zur Stabilität in der Euro-Zone gehört vor allem Eigenverantwortung. Die Arbeitsmarktgesetze, die Sozialversicherungen und die Wirtschaftspolitik sind in nationaler Hand. Dies sollte im Wesentlichen so bleiben. Sie haben zentralen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung jedes Landes. Deshalb muss auch jedes Land dafür die Kosten tragen, wenn falsche Politik gemacht wird, man kann das nicht den anderen Staaten auflasten. Deshalb wäre eine europäische Arbeitslosenversicherung der falsche Weg. Es ist wieder ein klassisch sozialdemokratischer Umverteilungsansatz. Wir als EVP wollen nicht Arbeitslosigkeit finanzieren, sondern wir wollen Arbeitsplätze schaffen.

Im Oktober finden in Bayern Landtagswahlen statt. Einerseits wird Ministerpräsident Söder nicht müde, die pro-europäische Ausrichtung Bayerns zu betonen. Andererseits verlangt er von den Verantwortlichen in der EU „Respekt statt Belehrung“. Befürchten Sie einen Anti-EU-Wahlkampf in Bayern?

Die bayerische Gesellschaft und Wirtschaft sind in der EU tief eingebettet. Deshalb ist für uns als CSU klar: Wir wollen Europa gestalten. Da gibt es auch Punkte, die manchmal auch mich ärgern, wenn die EU etwa bei der Regulierung über das Ziel hinausschießt. Entscheidend ist, dass wir in solchen Fällen mitreden. Und das praktiziert die CSU.

In jedem Fall dürfte das Thema der Migration eine große Rolle im bayerischen Wahlkampf spielen. CSU-Landesgruppenchef Dobrindt fordert mehr Zurückweisungen illegaler Flüchtlinge an der deutsch-österreichischen Grenze. Was halten Sie davon?

In Berlin hat Horst Seehofer die Verantwortung dafür, mit dem Masterplan das weitere Vorgehen in der Migrationspolitik festzulegen. Uns war auch immer klar: Solange an den EU-Außengrenzen keine hundertprozentige Sicherheit gewährleistet werden kann, haben wir auch im Inneren Aufgaben. Das tragen wir als CSU geschlossen mit.

Ein beherrschendes Thema für die Europäer ist die Auseinandersetzung mit US-Präsident Trump. Lässt sich eine weitere Eskalation im Handelsstreit noch vermeiden?

Die Lage ist ernst und spitzt sich leider tatsächlich zu. Die Europäer müssen geschlossen bleiben, wenn sie aus dieser Lage das Beste machen wollen. Ich unterstütze die Kommission in ihrem Vorhaben, eine Antwort auf die von Trump verhängten Strafzölle auf Stahl- und Aluminiumimporte zu geben. Wir wollen keine Eskalation, und wir sind auch immer zu Gesprächen bereit gewesen. Wir dürfen aber nicht die Chancen übersehen, die sich aus der neuen Lage ergeben. Das G-7-Treffen in Kanada verdeutlicht, wie isoliert Trump ist. Wir stehen auf der Seite derjenigen, die am System der Welthandelsorganisation WTO für einen fairen Handel festhalten wollen. Wir Europäer sind die größte Handelsmacht der Welt. Das versetzt uns in die Lage, gemeinsam mit anderen Weltregionen neue Entwicklungen anzustoßen. Wenn wir die Situation im 21. Jahrhundert betrachten, so stellen wir fest, dass die größte wirtschaftliche Dynamik nicht mehr in den USA herrscht, sondern in Asien. Die Chance, auf gleicher Augenhöhe mit China neue Handelspotenziale auszuschöpfen, sollten wir nutzen.

Zielt Trump darauf ab, die Europäische Union zu spalten?

Man hat den Eindruck, sowohl China, die USA als auch Russland hätten ein Interesse an einer schwächeren Europäischen Union. Wenn die EU zusammensteht, dann ist sie eine Macht. Aber wenn dieser Kontinent sich spalten lässt, dann ist er schwach. Zum Glück liegt die Entscheidung darüber nicht bei Trump und Putin, sondern bei uns selbst.

Zur Startseite