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Die EU und Polen: Die Ohnmächtigen

Europa muss tatenlos zusehen, wie der Rechtsstaat in Polen ausgehöhlt wird. Es fehlt an abgestuften Sanktionen – noch.

Als EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker im vergangenen September in Straßburg seine „Rede zur Lage der Union“ hielt, kündigte er zwar gleich zu Beginn seines Vortrags vollmundig eine „ehrliche Diagnose“ zum schlechten Zustand der Europäischen Union an. Aber auf einen entscheidenden Punkt, der die schlimme Lage im Inneren der EU verdeutlicht, kam Juncker in seinen Ausführungen gar nicht zu sprechen: die besorgniserregenden Manöver, mit denen die nationalkonservative Regierung in Polen die Justiz und die Medien unter ihre Kontrolle zu bringen versucht.

"Wertegemeinschaft" der EU wird in Sonntagsreden gerne hochgehalten

Das Schweigen Junckers kann als Beleg dafür gelten, dass die „Wertegemeinschaft“ der EU zwar immer wieder in Sonntagsreden hochgehalten wird, aber in der Praxis den Worten wenig folgt. Seit die nationalkonservative Regierung unter der Führung der Ministerpräsidentin Beata Szydlo in Polen Ende 2015 ins Amt kam, musste Brüssel zusehen, dass die Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) Justiz und Medien immer mehr gängelt. Ohne Polen beim Namen zu nennen, erklärte Juncker in seiner Rede im vergangenen September nur ganz allgemein, dass die Europäer an „unabhängige, effektive Justizsysteme“ glaubten. Die vagen Ausführungen des Kommissionschefs legen den Schluss nahe, dass die Brüsseler Behörde angesichts der zahlreichen übrigen Krisen – vom Brexit über die Migration bis zur Neujustierung des Verhältnisses zu den USA – nicht auch noch eine Eskalation im Verhältnis zu Polen heraufbeschwören möchte.

Rechtsstaatsverfahren der Kommission als Feigenblatt

Als Feigenblatt dient der EU-Kommission ein Rechtsstaatsverfahren gegen Warschau, bei dem sich beide Seiten seit Januar 2016 in einer Art diplomatischem Pingpong gegenseitig Vorwürfe machen, ohne dass Fortschritte sichtbar wären. Zuletzt kündigte dabei Junckers Stellvertreter Frans Timmermans im vergangenen Monat an, dass die Kommission „neue Empfehlungen“ nach Warschau schicken werde. Szydlos Regierung hat jetzt bis Februar Zeit, um darauf zu reagieren.

Als die Kommission ihre Empfehlungen nach Warschau abschickte, protestierten dort noch Regierungsgegner vor dem polnischen Parlament, dem Sejm. Die Demonstranten begründeten ihren Protest mit dem Vorhaben der Regierungspartei PiS, den Zugang der Medien zur Abgeordnetenkammer zu beschränken. Inzwischen ist die Parlamentsblockade wieder beendet, nachdem die PiS ihre Pläne wieder rückgängig machte.

Umstrittene Berufung der neuen Verfassungsgerichtspräsidentin

Dagegen hält die PiS weiter an einer umstrittenen Personalie beim Umbau des Verfassungsgerichts fest, die auch den Stein des Anstoßes für die jüngsten „Empfehlungen“ aus Brüssel lieferte: Im Dezember ernannte Staatschef Andrzej Duda die PiS-Parteigängerin Julia Przylebska zur neuen Vorsitzenden Richterin des Verfassungsgerichts. Przylebska ersetzte nach dem Ablauf von dessen Amtszeit den streitbaren Vorsitzenden Andrzej Rzeplinski. „Bei der Ernennung von Przylebska wurden die Vorgaben der Verfassung und die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts nicht beachtet“, kritisiert Thomas Markert, der Sekretär der Venedig-Kommission des Europarates. „Hier wurde eine Präsidentin ernannt, die nicht von der Mehrheit der Richter vorgeschlagen wurde.“

Die Venedig-Kommission besteht aus Verfassungs- und Völkerrechtsexperten des Europarates – einem Debattenforum, dem 47 Mitgliedstaaten angehören. Die Kommission kam bereits im vergangenen Jahr zu dem Ergebnis, dass die PiS mit ihrer Reform des Verfassungsgerichts den Rechtsstaat aushöhlt. Polens Außenminister Witold Waszczykowski wollte diese Bewertung allerdings nicht gelten lassen. Der Bericht der Venedig-Kommission sei „extrem einseitig“, polterte er. Den Zorn des PiS-Mannes Waszczykowski bekamen auch andere zu spüren. Über seinen Landsmann, den in Brüssel als EU-Ratschef amtierenden Ex-Regierungschef Donald Tusk, sagte Waszczykowski, dieser sei „eine Ikone des Bösen und der Dummheit“. Zuvor hatte Tusk, dessen „Bürgerplattform“ nach der Machtübernahme der PiS in die Opposition ging, den Polen in einer Neujahrsbotschaft ein „Vaterland frei vom Bösen und von Dummheit“ gewünscht.

Jenseits derartiger Wortgefechte stellt sich allerdings die Frage, ob die EU-Partner die Regierung in Warschau tatsächlich zum Einlenken bringen können – oder wollen. Das Dilemma besteht darin, dass am Ende des von der EU-Kommission angestrengten Rechtsstaatsverfahrens zwar durchaus handfeste Sanktionen stehen könnten. Nach Artikel 7 des EU-Vertrages, der auch als „Atombombe“ bezeichnet wird, ist es theoretisch möglich, einem Land wie Polen bei schwerwiegenden Verletzungen der europäischen Grundwerte die Stimmrechte in der Gemeinschaft zu entziehen.

Stimmrechtsentzug für Polen - nur eine theoretische Möglichkeit

In der Praxis sind Sanktionen nach Artikel 7 indes kaum umsetzbar. Denn dazu bräuchte es die einstimmige Zustimmung aller übrigen Länder in der EU – und da stellt sich das vom Nationalkonservativen Viktor Orbán regierte Ungarn quer.

In dieser Situation wird nun im EU-Parlament nach einem Ausweg gesucht. Konkret geht es um Sanktionen, die nicht gleich das „Atombomben“-Potenzial des kompletten Stimmrechtsentzugs beinhalten, aber dennoch genügend Drohmittel, um Polens Regierung auf Kurs zu zwingen. In einer Vereinbarung zwischen ihren Fraktionen forderten der Chef der konservativen EVP, Manfred Weber (CSU), und der Liberale Guy Verhofstadt vergangene Woche einen „neuen EU-Mechanismus für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte“.

Das könnte in der Praxis auf einen neuen Sanktionskatalog hinauslaufen, der differenziert genug ist, um Rechtsstaatsverstöße wirkungsvoll zu ahnden. Die CSU-Europaabgeordnete Monika Hohlmeier schlägt vor, zu diesem Zweck ein neues EU-Gremium zu schaffen, für das jeder der (noch) 28 Mitgliedstaaten einen höchsten Richter benennt. Kommt das Richtergremium zu dem Urteil, dass in einem Land schwerwiegende Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit vorliegen, dann soll anschließend ein abgestufter Sanktionskatalog zur Verfügung stehen. „Das können finanzielle Sanktionen sein, die Streichung bestimmter Fördermittel oder auch Stimmrechtseinschränkungen in einzelnen Politikbereichen“, sagt Hohlmeier.

Merkel plant Anfang Februar Warschau-Besuch

Die europäischen Mitgliedstaaten – und damit auch Deutschland – haben dem ergebnislosen Hickhack zwischen der EU-Kommission und der polnischen Regierung bislang mehr oder weniger stumm zugesehen. Es wäre eine Überraschung, wenn Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bei ihrem für Anfang Februar geplanten Besuch in Warschau, bei dem nach polnischen Medienberichten auch eine Begegnung mit dem PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski vorgesehen ist, von dieser Linie abrücken würde. Dem Vernehmen nach soll es bei der Visite Merkels in erster Linie um den Brexit und den neuen US-Präsidenten Donald Trump gehen. „Die Sorge um die rechtsstaatlichen Verhältnisse in Polen wird die Kanzlerin in Warschau nicht verschweigen“, erwartet der CDU-Bundestagsabgeordnete Christoph Bergner. Aber er gibt auch zu bedenken: „Wir Deutsche eignen uns als Oberlehrer für Polen denkbar schlecht.“

Der Text erschien in "Agenda" vom 24. Januar 2017, einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

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