Europaparlament im Umbruch: Verlust eines Verbündeten
Martin Schulz geht, an seiner Stelle kommt ein neuer EU-Parlamentschef - und der Einfluss des Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker in Brüssel schwindet.
Jean-Claude Juncker hat sich vermutlich einen anderen Start ins neue Jahr gewünscht. Zu Beginn des Jahres 2017 steht die Wahl eines neuen EU-Parlamentspräsidenten auf der Agenda. Wäre es nach dem EU-Kommissionschef Juncker gegangen, dann hätte sein alter Vertrauter Martin Schulz (SPD) auch weiter die Strippen an der Spitze des Europaparlaments gezogen. Doch mit dem Wechsel von Schulz in die Bundespolitik wird daraus bekanntlich nichts – und damit steht auch die informelle große Koalition im EU-Parlament auf der Kippe, die Juncker bislang die Mehrheiten für wichtige Gesetzgebungsprojekte sicherte.
Juncker soll mit seinem Rücktritt gedroht haben
Wie gravierend der Weggang von Schulz für den Luxemburger Juncker ist, hatte sich bereits im vergangenen Monat gezeigt. Damals soll der Kommissionspräsident im kleinen Kreis mit seinem Rücktritt gedroht haben, falls der wortmächtige deutsche SPD-Politiker keine weitere Amtszeit als EU-Parlamentschef bekommt. Den Christsozialen Juncker und den Sozialdemokraten Schulz verbindet so einiges: Beide gelten als eingefleischte Europäer; beide sind der Überzeugung, dass der Einfluss der Populisten im Europaparlament möglichst klein gehalten werden muss. Von Schulz stammt zudem die Idee der EU-Spitzenkandidaten, mit denen die europäischen Parteienfamilien vor zweieinhalb Jahren ihre Kampagnen bei der Europawahl anführten.
Dem Spitzenkandidaten-Konzept verdankt Juncker letztlich seine Berufung auf den Posten des EU-Kommissionschefs – mit der Zustimmung von Kanzlerin Angela Merkel (CDU), die der Personalie Juncker anfangs skeptisch gegenüberstand. Als er dann im Amt war, sicherte der Sozialdemokrat Schulz dem Luxemburger gemeinsam mit der konservativen EVP-Fraktion die Mehrheiten im EU-Parlament. So verabschiedeten die Abgeordneten etwa nach den Pariser Anschlägen und den Brüsseler Attentaten mit der Billigung der Sozialdemokraten im Anti-Terror-Kampf eine Neuregelung zur Fluggastdatenspeicherung in der EU.
Bei der Ceta-Abstimmung im Februar kommt es zum Schwur
Ob das informelle Bündnis zwischen Konservativen und Sozialdemokraten in Brüssel auch weiter hält, wird sich spätestens im kommenden Februar zeigen. Dann wollen die Parlamentarier in Brüssel über das umstrittene Freihandelsabkommen mit Kanada (Ceta) abstimmen. Im Oktober musste die Unterzeichnung des Vertrages mit Kanada verschoben werden, weil die Wallonie Einsprüche gegen die Handelsvereinbarung geltend machte. Zuvor hatte Juncker die Ceta-Vereinbarung noch als das „beste und fortschrittlichste“ Handelsabkommen gelobt, das die Europäische Union je abgeschlossen habe.
Das Bündnis zwischen Juncker und Schulz kam auch zum Tragen, als vor zwei Monaten die EU wegen der Ceta-Blockade der Wallonie eine peinliche Hängepartie erlebte. Schulz schaltete sich damals als Vermittler ein und versuchte die skeptischen Wallonen davon zu überzeugen, ihren Widerstand gegen das Abkommen aufzugeben. Künftig kann Juncker wohl kaum damit rechnen, dass sich Schulz’ Nachfolger in Brüssel so öffentlichkeitswirksam für ihn in die Bresche wirft. Zur Wahl stehen unter den Straßburger Abgeordneten am 17. Januar für das Amt des Parlamentschefs die Italiener Antonio Tajani (für die Konservativen) und Gianni Pittella (für die Sozialdemokraten) sowie der Belgier Guy Verhofstadt (für die Liberalen). Von keinem der drei kann Juncker erwarten, dass er das Amt des EU-Parlamentschefs derart zu einer zentralen Schaltstelle in Brüssel aufwertet, wie Schulz dies tat.
Junckers Kabinettschef lästerte über "wandelnde Schlaftabletten"
Dennoch wirkt Juncker in diesen Tagen, da sich die Begrenzung seines Einflusses in der EU-Hauptstadt abzeichnet, seltsam locker. Statt die Kräfte seiner EU-Kommission zu bündeln, verstieg er sich jüngst sogar zu einem Rundumschlag gegen seine Kollegen: Die finnische Zeitung „Helsingin Sanomat“ zitierte Junckers Kabinettschef Martin Selmayr mit den Worten, dass Juncker einige seiner 27 Kommissarskollegen derart „langweilig“ finde, dass er sie „wandelnde Schlaftabletten“ nenne.
Im Frühjahr steht die Halbzeit-Bilanz an
Anschließend erklärte ein Sprecher der Brüsseler Behörde, dass Juncker „volles Vertrauen“ zu allen seinen Kommissaren habe. Aus gutem Grund: Für den 62-Jährigen, dessen Amtszeit noch bis November 2019 dauert, steht im kommenden Frühjahr die Halbzeitbilanz in seinem Amt als Kommissionschef an. Statt internem Zwist in seiner Behörde braucht Juncker dabei vorzeigbare Ergebnisse auf den zahlreichen EU-Baustellen – angefangen von den Rettungsplänen der italienischen Regierung für die Krisenbank Monte dei Paschi bis zum schwierigen Verhältnis mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Je erfolgreicher sich Juncker dabei als Krisenmanager präsentiert, umso höher sind auch die Chancen, dass Europas Parteienfamilien bei der nächsten Europawahl 2019 ihr Spitzenkandidaten-Experiment von 2014 wiederholen.