Wiederbelebung eines Begriffs: Die neue Sehnsucht nach Heimat
Die Heimat schien als Begriff von gestern zu sein: eng, kitschig und anziehend für Rechtsradikale. Doch es gibt gute Gründe, sich ihr neu anzunehmen. Ein Essay.
Macht sich das Land jetzt auf die Suche nach dem, was am nächsten liegt? Nach dem, wo wir leben und was in uns lebt? Am Tag der Deutschen Einheit hat sich der Bundespräsident als Fremdenführer für das Vertraute angeboten und die Gesellschaft aufgerufen, diesen Weg mitzugehen. Es ist der Weg in die Heimat, von dem man zuletzt den Eindruck gewinnen konnte, er wäre zum Trampelpfad für Rechtspopulisten verkommen.
Genau dorthin aber will Frank-Walter Steinmeier die Gesellschaft bringen. „Die Sehnsucht nach Heimat – nach Sicherheit, nach Entschleunigung, nach Zusammenhalt und vor allen Dingen Anerkennung –, diese Sehnsucht dürfen wir nicht den Nationalisten überlassen.“ Heimat für alle also. Die Bedürfnisse vieler Menschen dürfte Steinmeier damit angesprochen haben. Für ihn ist Heimat prall gefüllt mit gutem Leben. Das richtige Ziel für einen großen Aufbruch.
Wo sonst als in ihrer Heimat kann Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl der Entwurzelung genommen werden? Dieses Gefühl, von dem sich Rechtspopulisten ernähren. Wenn die erst den Deutungsanspruch über Heimat verlieren, gehen ihnen die Wählerstimmen gleich mit aus, das wäre das Kalkül. Heimat als von Nationalisten befreite Zone.
Wie viele sich von einem solchen Ziel mitziehen lassen, hängt erst einmal am Begriff selbst. Es braucht intensive Verständigung, ja sogar Streit, um Heimat als Leitbild in die Mitte der Gesellschaft zu holen. Lohnt das? Es gibt schließlich Begriffe, nach denen man sich nicht mehr bücken muss. Die Leitkultur etwa kann man getrost liegen lassen. Sie ist kontaminiert und die Halbwertszeit des an ihr klebenden Gemischs aus Hierarchie, Ordnung und Unterordnung einfach zu hoch. Da hilft auch keine noch so engagierte gesellschaftliche Debatte. Leitkultur ist durch.
Warum sollte das mit der Heimat anders sein?
Mehr als Herkunft. Und mehr als Zuhause
Vielleicht, weil für die Heimat ein Zeitfenster aufgegangen ist, ein ziemlich breites sogar. Heimat zeigte etwa nach der Bundestagswahl seine neue Ausstrahlung: Die Grünen-Vorsitzende Katrin Göring-Eckardt nahm Heimat gerade in ihrer Parteitagsrede in persönliche Obhut: „Wir lieben dieses Land, das ist unsere Heimat, und diese Heimat spaltet man nicht.“ Der grüne Landwirtschaftsminister Robert Habeck aus Schleswig-Holstein gab dazu den Auftrag aus: „Politik muss auch eine Idee formulieren. Eine Heimatidee. Eine Identitätsidee.“ Aus der Parteilinken und der Grünen Jugend kam prompt Ablehnung: Heimat grenze doch aus. Solidarität statt Heimat.
Es ist keineswegs verwegen, Heimat mehrheitsfähig zu nennen. Insofern passt sie schon mal zu unserer Demokratie. Heimat ist ein schön überschaubarer Begriff, kleiner und leichter als Nation, Volk, Vaterland. Ein handliches Gefäß. Verstehen und verstanden werden, das ist für Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ihr Wesensmerkmal. Also mehr als die Herkunft. Und mehr als das Zuhause.
Heimat ist, was in einem und um einen herum ist, das Prägende, emotional aufgeladen mit persönlicher Verbundenheit. Und wenn man etwas verbunden ist, dann lebt und leidet man mit, man setzt sich bestenfalls ein, es besser zu machen. Man gibt einen Teil von sich.
Der alte Heimatbegriff: ein Fall fürs Heimatmuseum
So weit, so hoffnungsvoll. Doch klein ist der Begriff auch deshalb, weil in ihm Enge hausen kann. Früher erbte der Älteste den Hof, die anderen mussten sehen, wo sie blieben. Der eine führte die Tradition fort, die anderen konnten, mussten, durften raus in die Welt. Die Moderne hat das brüchig werden lassen, die Postmoderne pulverisiert. Was früher Ideal war, davon wenden sich Menschen heute mit Grausen ab. Im Wort Heimat klingt das Vorgärtchen mit und die spitzengardinenverhangenen Fenster, die verklärte Idylle. „Unsre Heimat ist das Gras auf der Wiese, das Korn auf dem Feld und die Vögel in der Luft und die Tiere der Erde und die Fische im Fluss sind die Heimat“, heißt es im DDR-Pionierlied.
Der Vorschlag, im nächsten Bundeskabinett ein Heimatministerium einzurichten, wirkt da geradezu hilflos. Es gehe um den Schutz des ländlichen Raums, lautet die Begründung eines CDU-Landespolitikers. Da ist sie, die bedrohte, schwächliche Heimat. So lässt sich der Begriff jedenfalls nicht beleben, wenn er vor allem zur Abwehr benutzt wird.
Überhaupt hat er schwere Zeiten hinter sich. Er ist schon pathologisiert worden. Der Schweizer Psychoanalytiker und Schriftsteller Paul Parin nannte Heimat in der „Zeit“ eine „seelische Plombe“. „Sie dient dazu, Lücken auszufüllen, unerträgliche Traumen aufzufangen, seelische Brüche zu überbrücken, die Seele wieder ganz zu machen. Je schlimmer es um einen Menschen bestellt ist, je brüchiger sein Selbstgefühl ist, desto nötiger hat er oder sie Heimatgefühle.“ Das war Mitte der neunziger Jahre.
Immer mehr Welt - immer weniger Heimat
Im internationalen Wettbewerb mit dem intellektuell geadelten Weltbürgertum kämpfte die Heimat auf verlorenem Posten. Sind nicht Kultur und Sprache als Aufenthaltsraum für die eigene Identität genug? Das Weltbürgertum gibt es schon lange, aber durch die Globalisierung schien es endlich von der Masse sichtbar ausgelebt werden zu können. Je zugänglicher die Welt, desto weniger Platz fand darin die Heimat. Manche nannten auf einmal Europa ihre Heimat, davon hatten sie dank Interrail und günstigen Flügen viel gesehen. Andere gaben gleich die ganze Welt als ihr Zuhause an. Die ist ihnen dabei entgegengekommen, auch durch internationale Marken, global brands. Auf der Hotelterrasse einer asiatischen Megacity Heineken zu trinken, hat zwar nichts Heimatliches, aber etwas Wiedererkennbares. Das reichte manchen schon.
Im Reiz der neuen Welt wirkte Heimatbedürfnis zusehends lächerlich. Als Scholle. Als Verzweiflung der Zurückgebliebenen. Auf den Seiten Heimatsport wird doch in den Heimatzeitungen über die Vereine berichtet, die es eben nicht nach oben geschafft haben. Sich Heimat zu wünschen, erschien so ritualfixiert wie 365 Jahre im Jahr Heiligabend feiern zu wollen. Ergraut und faltig sah der Begriff aus. Junge Menschen wollen die Welt verstehen, die Älteren betreiben Heimatkunde. Was früher passiert ist – ab ins Heimatmuseum.
Und hatte nicht die Digitalisierung der Heimat den Rest gegeben? Die ersten digitalen Nomaden zogen noch als heimatlose Avantgarde umher. Heute wirkt es, als trügen viele die Heimat in der Hosentasche, weil sie im Smartphone Freunde, Erinnerungen, Prioritäten, ja ihr eigenes Selbstbild finden. Wozu Heimat? Ich habe die Community.
Woher die Sehnsucht nach Heimat kommt
Und dennoch klettert der Begriff nun allmählich aus dem Tal empor. Heimat kann stehen bleiben heißen. Stillstand. Unbeweglichkeit. Gerade das hat das Bedürfnis nach ihr wieder so groß werden lassen: dass um die Menschen herum so viel und wohl auch zu viel in Bewegung gekommen ist. Neue Technologien, die sich schwer kontrollieren lassen. Neue Anforderungen in der Arbeitswelt. Interaktive Medien, deren Wirkung sich nicht einschätzen lässt. Neue gesellschaftliche Ansichten. Zuzug fremder Menschen. Parallelgesellschaften. Drohende Szenarien, in denen der Einzelne seinen Platz lange suchen muss und am Ende vielleicht gar nicht mehr findet. Im Bedürfnis nach Heimat offenbart sich eine große Verletzbarkeit.
Gerade das Ungewohnte, das Ungewollte produziert Bedürfnisse nach Geborgenheit und Behaglichkeit, des So-sein-Dürfens, wie man sich selbst sieht. Unfair und hochmütig wäre es, dieses Bedürfnis allein Hinterwäldlern zuzuschreiben. Gerade auch eine Metropole wie Berlin erlebt Skepsis gegenüber Veränderung. Sie spielt in Entscheidungen hinein wie die zur Randbebauung des Tempelhofer Feldes, zum Erhalt des Flughafens Tegel, zur Weiterentwicklung der Volksbühne unter ihrem neuen Intendanten Chris Dercon.
In Berlin kann Heimat sein, sich die große Stadt im Kiez klein zu machen. Sie bleibt dabei offen für die Welt, nur eben überschaubar, und wird persönlich dadurch, dass die eigenen Fäden Anknüpfungspunkte bekommen in der Nachbarschaft, in Geschäften und Lokalen und Vereinen. In einem Treffpunkt wie dem „Heimathafen Neukölln“.
Heimat muss eine doppelte Drehung hinbekommen
Heimat ist Ort und Gefühl, und zwar vor allem Sehnsucht. Die Heimat vermisst man, wenn man gerade nicht da ist. Auch deshalb organisieren sich Vertriebene in Verbänden, insgeheim wissend, dass ihre Heimat für immer verloren ist. Doch das macht das Sehnen nur stärker. Auch das hat Paul Parin psychoanalytisch zu deuten versucht mit dem prominentesten Fall, der ihm einfiel – Israel: „Eretz Israel, die großartigste Stiftung von Heimat, war längst zur Heimat von Juden der Diaspora geworden – am wenigsten vielleicht der im Land Israel geborenen Sabres –, lange bevor ihnen der Hitler-Staat nach den Worten von Paul Celan ein ,Grab in den Wolken‘ bereitet hatte.“ Auch wenn sich manche Sehnsucht nach den biblischen Verheißungen nicht erfüllt haben sollte, spricht das nicht gleich dagegen, sich des Begriffs neu anzunehmen. Hat nicht gerade der Zionismus als Bewegung unglaubliche Kräfte freigesetzt durch seine Sehnsucht?
Es könnte auch jetzt darum gehen, die Kraft aus der Sehnsucht zu ziehen, den Weg als Ziel zu nehmen. Auch zurzeit wird so manches vermisst, Zusammengehörigkeit und Anerkennung, Aufgehoben-Sein. Am Bild der Verwurzelung kommt man dabei in seiner Natürlichkeit nur schwer vorbei. „Heimat weist in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit“, hat Frank-Walter Steinmeier gesagt. Dahinter könnte man Ernst Bloch vermuten. In „Prinzip Hoffnung“ schreibt er am Schluss: „Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“
Vom Gestern ins Morgen, vom Ich zum Wir
Um jetzt weiterzukommen, um Leitbild zu werden, müsste der Begriff eine zweifache Drehung vollführen. Weil Heimat eben nicht nur Ort und Gefühl ist, sondern auch Zeit, geht es um diesen Perspektivwechsel: Für die einen heißt Heimat, vom Heute ins Gestern zu schauen. Aber es muss darum gehen, vom Heute ins Morgen zu schauen. Heimat muss das Ziel werden, das den Aufbruch wert ist.
Das ist die eine Drehung. Zum anderen muss Heimat von einem ganz persönlichen Begriff auch zu einem gemeinschaftlichen werden. „Heimat ist der Ort, den wir als Gesellschaft erst schaffen. Heimat ist der Ort, an dem das ,Wir‘ Bedeutung bekommt.“ Sagt Steinmeier. Ob da alle mitmachen, ohne dass ihnen schwindelig wird? Hilfe, jetzt soll selbst Heimat nicht mehr das sein, was es war?
Rechtspopulisten sagen, was Heimat alles nicht sein darf. Es kommt jedoch darauf an, was sie werden kann. Nur den Rechtspopulisten nicht alle Begriffe überlassen zu wollen, die mit Bindung und Identität zu tun haben, reicht als Antrieb ohnehin nicht aus. Das wäre selbst Abwehrhaltung. In ihrer Selbstverständlichkeit muss Heimat nicht neu erfunden, aber neu bestimmt, erfüllt und erzählt werden, das geht nur mit Austausch und Verständigung. Edgar Reitz ist das mit seinem Filmepos „Heimat“ gelungen, einer Familiengeschichte im Hunsrück im 20. Jahrhundert.
Neue Horizonte für due Heimat
So bleiben kann die Heimat ohnehin nicht, das wäre eine Illusion, und das könnte ein Ausgangspunkt für eine Bestimmung sein, die nach vorne weist. Sie verändert sich immer, und am deutlichsten erfährt man das, wenn man ein paar Jahre ins Land gehen lässt und dann durch seinen Herkunftsort läuft und nicht nur mit neuen Gebäuden, sondern auch einer anderen Stimmung konfrontiert wird. Auf der anderen Seite sind in der eigenen Heimat manche und manches ehemals Fremde in der Zwischenzeit vertraut geworden. So ist Heimat auch ein Angebot, dazuzukommen.
In Deutschland ist die Heimatdiskussion eine besonders fordernde, etwa im Vergleich zu den USA, einer deutlich mobileren Gesellschaft, in der die Menschen dafür eine viel engere Bindung zu ihrer Religionsgemeinschaft haben und diese Bindung beim Umzug einfach mitnehmen. Die kleine Heimat muss allerdings hierzulande nicht auf einmal beweglich und groß werden, sonst ist sie für manche vor lauter Unübersichtlichkeit keine Heimat mehr, aber sie muss offen sein, sie braucht neue Horizonte. Sie könnte der Schlüssel werden, um die Welt zu begreifen. Doch dazu braucht es Nähe und Formen für persönlichen Austausch. Indem Vereine gestärkt werden, indem Mitsprache möglich ist, indem Einladungen ausgesprochen werden.
Heimat wäre die Möglichkeit für Menschen, sich auch im Wandel selbst wiederzufinden. Wenn auf diesem Weg ein anderer Begriff auftaucht und die Verständigung unter anderem Namen weitergeht, auch dann hätte sich der Austausch gelohnt.
Friedhard Teuffel
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