Vorstoß von Thomas de Maizière: Bitte nicht schon wieder Leitkultur!
Die Zuwanderung hat das Land verändert – eine Debatte von vorgestern ist darauf der falsche Reflex. Ein Kommentar.
Zwei Seiten hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière in der „Bild am Sonntag“ mit einem Beitrag zu den Fragen „Wer sind wir? Und wer wollen wir sein?“ gefüllt. Zwei Begriffe hat er darin untergebracht, die beinahe alles andere überdecken. Leitkultur ist der eine. Burka der andere.
Mit der Burka lässt sich leicht eine Überschrift machen. Das ist de Maizière nicht vorzuwerfen. Wer etwas zu sagen hat, darf sich auch Gehör verschaffen und dabei Mittel wie die Zuspitzung einsetzen. „Wir sind nicht Burka“, schreibt der Minister. Doch hatte das jemand behauptet oder befürchtet? Als ob die Burka im deutschen Straßenbild auffällt. Wer hat wann zum letzten Mal eine gesehen? Die Burka ist nicht die Spitze der Zuwanderungsdebatte, sondern ihr dunkler Rand. Und indem sie de Maizière an prominenter Stelle, in seiner ersten von zehn Thesen platziert, gibt er schon mal den Ton vor.
Sein anderer Begriff ist die Leitkultur. Die schien eigentlich als Wort schon eingemottet zu sein. Doch der Minister kramt sie noch einmal hervor. Es ist nicht zu erkennen, dass die Debatte um diesen Begriff die Gesellschaft in irgendeiner Weise vorangebracht hat.
Seitdem ist eine Menge passiert: Viele Menschen sind nach Deutschland gekommen, von dieser Zuwanderung fühlen sich Teile der Gesellschaft zu Hilfsbereitschaft herausgefordert, andere wiederum beängstigt sie. Es gibt eine Partei, die ohne diese Einwanderung keine Chance hätte, in den Deutschen Bundestag einzuziehen. Müsste man nicht gerade angesichts solcher Entwicklungen noch einmal Luft holen und neu ansetzen, mit unverbrauchten Begriffen?
De Maizières Beitrag enthält richtige Feststellungen, einige Binsenweisheiten sind auch dabei – wie die Bedeutung der Bildung oder dass Deutschland eine Kulturnation ist. Es ist jedoch zu befürchten, dass er sich mit seinem Leitkultur-Dach einreiht in das gerade stattfindende Duell aus Reflexen und Gegenreflexen. Der Verdacht liegt nahe, dass es de Maizière vor allem um die Hoheit geht, die Hoheit über Begriffe und politische Strömungen. Darunter leidet auch der Blick auf die Wirklichkeit.
Zum Nationalismus schreibt er: „All das ist vorbei.“ Dabei inszenieren sich doch gerade manche als das „Volk“, die nichts am Hut haben mit dem aufgeklärten Patriotismus, den der Minister in der „Wir“-Form beschwört, sondern vielmehr mit dem Nationalismus, den er für besiegt hält.
Es wäre vertane Zeit, wenn jetzt noch einmal die Leitkulturdebatte von vorgestern geführt würde. Denn es gibt noch mehr Fragen und Herausforderungen. Bisher bestehende Linien zwischen links und rechts, liberal und konservativ scheinen sich aufzulösen und überzugehen in neue Muster und Konflikte. Das betrifft gerade auch die Zuwanderungsdebatte. De Maizière schreibt dazu: „In unserem Umgang mit diesen Menschen sollte uns eine Unterscheidung leiten: Die Unterscheidung zwischen dem Unverhandelbaren und dem Aushaltbaren.“ Was unverhandelbar ist, benennt er deutlich, wie die Achtung der Grundwerte und die Einhaltung des Respekts.
Was die Gesellschaft aushalten muss, dazu sagt er erst einmal nichts. Die Burka wird es nicht sein.
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