Die Sehnsucht nach Zuhause als großer Schmerz: Diagnose: Heimweh
Es kann jeden erwischen: Kinder, Demente, Flüchtlinge, Soldaten – sogar einen Außerirdischen wie E.T.. Der wollte unbedingt nach Hause telefonieren. Von der Macht schrecklich starker Gefühle.
Die harten Männer hat es am heftigsten erwischt. Bei Kindern und Sensibelchen, da hätte es ja jeder erwartet. Aber ausgerechnet die Schweizer Soldaten wurden fernab der heimatlichen Berge so schwermütig, dass sie die Kraft verließ. Sie magerten ab, fieberten, manche starben gar.
Diagnose: Heimweh, fortan auch „Schweizer Krankheit“ genannt. In seiner Dissertation hatte der Baseler Mediziner Johannes Hofer es 1688 als Ursache schweren Leidens beschrieben und Nostalgia getauft. Einen regelrechten Boom löste er damit aus. Abhandlungen, Doktorarbeiten, Debatten – das Heimweh wurde zum anerkannten Krankheitsbild, zu einem Massenphänomen. Ganz Clevere täuschten es gar vor, um dem Dienst an der Waffe zu entgehen.
Und dann, so plötzlich, wie es gekommen war, verschwand das Thema wieder. Nur nicht das Leiden selbst.
Heimweh, was für Heimweh? Der (westliche) Mensch von heute bummelt doch lässig durch die Welt. Highschool in Texas, soziales Jahr in Peru, Erasmus in Alicante, zwischendurch mit dem Billigflieger nach Rom und sowieso permanent via Internet mit der Welt verbunden – wonach soll man da noch Heimweh haben? Hierzulande halten viele die Krankheit für so passé wie Pest und Cholera. Heute spricht man bestenfalls von „Anpassungsstörungen“. Dabei war das Heimweh schon lange nicht mehr so aktuell wie im Zeitalter der großen Wanderbewegungen.
Ein unzeitgemäßes Gefühl
„Ein unzeitgemäßes Gefühl“, so nennt es Alexander Kiss, Chefarzt für Psychosomatik am Universitätsspital Basel. „In unsere flexible, globalisierte Welt passt das so wenig wie eine Kuckucksuhr.“ Der Mediziner lacht. Doch nicht über die, die darunter leiden. Für ihn ist es ein Schmerz, der ernst genommen werden muss. „Die Leute haben es, aber sie reden nicht drüber“, sagt Kiss. „Burn-out ist gut. Heimweh und Depressionen sind schlecht.“ Darüber zu sprechen, geniert man sich. Kiss, der das Weh aus eigener Erfahrung als Österreicher in der Schweiz kennt – was er nach 30 Jahren noch immer schmerzlich vermisst, ist der Wiener Humor –, hat eine Erklärung, warum das Heimweh in der Öffentlichkeit keine Rolle spielt: „Es betrifft Menschen, die nicht wichtig sind.“ Kinder, Flüchtlinge, Migranten. Osteuropäerinnen, die in Deutschland Alte pflegen und ihre eigene Familie in der Ferne zurücklassen. Dass philippinische Kindermädchen in den USA wahnsinniges Heimweh haben, „das interessiert niemanden“.
Dabei hat es wahrscheinlich jeder mal gespürt, der eine heftiger, der andere en passant. Heimweh ist normal, ja gesund, sagen Psychologen und Pädagogen: Wenn man damit umzugehen lernt. Schon die Kleinsten aus dem Kindergarten gehen ja heute auf Gruppenreise. Mit diesen hat Iris Haak, Kitaleiterin in Berlin, mehr als 30 Jahre Erfahrung. Heute seien es mehr noch die Eltern, die sich vor dem Heimweh fürchten, davor, dass es ihren Nachwuchs überwältigen könnte. „Die haben ihren Kindern früher mehr zugetraut.“ Eltern wollen ihren Kleinen das ersparen. „Doch man muss auch mal traurig sein dürfen. In der Regel gehen sie gestärkt aus solchen Reisen hervor.“
Doch, es erwischt sie, vor allem die Großen, Fünfjährigen, die eine intensivere Vorstellungskraft haben. Aber die Erzieherin betrachtet die Reise als Chance, das Getrenntsein zu üben, Techniken zu entwickeln, mit dem Heimweh umzugehen. Auch wenn sie herzzerreißend weinen, ihnen der Appetit vergeht, sie sich zurückziehen. Was der Kitaleiterin wichtig ist: dass sie sich Hilfe suchen, nicht meinen, sie müssten allein fertig werden damit.
Anders als Heidi, Johanna Spyris Romanfigur, ein fröhlich-forsches Naturkind, das in der Stadt vor lauter Heimweh anfängt zu schlafwandeln, und still ins Kissen weint. Ihr Glück, dass der Arzt der Familie es als potenziell tödliche Krankheit diagnostiziert. Die einzige Kur: sofort zum Großvater zurück in die Schweizer Berge.
Die Kinder genießen die Freiheit
Iris Haak hat in ihren mehr als 30 Jahren noch kein Kind abholen lassen müssen. (Allerdings, bekennt sie, fahren auch nur die mit auf Kitareise, denen man die Trennung von Zuhause zutraut.) Was hilft, ihrer Erfahrung nach, sind Rituale: Kerze anzünden, fragen, wie es den Kindern geht. Auch die, die eher gut drauf sind, müssen zuhören. „Da macht sich niemand darüber lustig.“ Mit einem anderen Kind kuscheln kann helfen, manche wollen im Zimmer der Betreuer schlafen oder legen sich Fotos von den Eltern unters Kissen. Oft stecken die Kleinen die traurigen Großen auch durch ihre Fröhlichkeit an. Und ablenken hilft immer. „Die Kinder genießen ja auch die Gemeinschaft, die Freiheit auf einer solchen Reise.“
Und nach Hause telefonieren? Nichts hat sich E.T. sehnlicher gewünscht als das. Dass das Heimweh im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter von Eisenbahn und Telegraf, aus der öffentlichen Debatte verschwand, erklären manche gerade mit den immer besseren Möglichkeiten von Transport und Kommunikation. Da habe man doch kein Heimweh mehr haben müssen. Nur reißt jeder Kontakt die Wunde auch wieder auf, verhindert das Sicheinlassen auf die Fremde.
Ein Wort für etwas, für das es keine Worte gibt
Der Filmemacher Edgar Reitz erzählt von einem Besuch im indischen Restaurant, die Bestellung war aufgegeben, bloß das Essen kam und kam nicht. Irgendwann sah er den Kellner in der Ecke stehen, tränenüberströmt. Nach einem Skypeanruf seiner Mutter konnte er nicht mehr bedienen.
„Da, wo du nicht bist, ist das Glück“, zitiert der erklärte Romantiker Edgar Reitz eine Liedzeile von Franz Schubert. Heimweh und Fernweh sind daher nahe Verwandte. In der Fremde sehnt man sich nach der Heimat zurück – und in der Heimat nach der Fremde. Die Gefühle ähneln sich.
Gleich das erste Kapitel seines ersten „Heimat“-Films hat Reitz „Fernweh“ genannt. „Beim Reden über Heimat“, sagt der 83-Jährige beim Gespräch in Berlin, „habe ich immer vom Weggehen gesprochen. Freiwillig oder unfreiwillig, aus einem Traum oder aus der Not heraus.“ In der Ferne angekommen, wirft man dann den Blick zurück – um vom Heimweh gepackt zu werden. Ein dialektischer Prozess, wie Reitz erklärt: „Die Heimat trägt man als Traum in die neue Lebensumgebung. Und da kehrt sich das wieder um.“
Mit dem Verstand lässt es sich nicht lösen
Für Reitz ist Heimweh, genau wie Heimat, „ein Wort für etwas, für das es eigentlich keine Worte gibt. Das ist kein intellektueller Begriff, es lässt sich nicht mit dem Verstand lösen. Man wird nicht geheilt, wenn man die Antwort weiß.“
„Die andere Heimat: Chronik einer Sehnsucht“ hat Reitz seinen letzten Film genannt, der von deutschen Auswanderern in Brasilien im 19. Jahrhundert erzählt. Viele Briefe von Emigranten hat er dafür gelesen. Und alle sprechen vom Heimweh. Dokumente der Verzweiflung wie der jenes Mannes, der schreibt, er habe nur einen Wunsch: noch einmal in seinem Leben das Wasser seiner Heimat zu trinken. Das habe so anders geschmeckt. Er weiß, er wird es nie mehr kosten.
In der Fremde, erzählt Reitz, versuchten die Auswanderer dann, ihre Heimat zu etablieren. Indem sie zum Beispiel eine protestantische Kirche in dem katholischen Land bauten, zusammen beteten und weinten. Dieses Erwachen von Religiosität, das der Filmemacher jetzt auch bei vielen islamisch geprägten Menschen beobachtet – für Reitz ist es ebenso sehr ein Ausdruck wie ein Versuch der Verarbeitung von Heimweh.
Wiener Schnitzel bei 38 Grad
Die Schriftstellerin Gila Lustiger ist in Frankfurt am Main mit dem Heimweh ihrer Eltern und Großeltern groß geworden. Dem ihrer Mutter, die aus Israel kam. Dem des Vaters, des Historikers und Holocaustüberlebenden Arno Lustiger, der, in Schlesien geboren, auf dem Sterbebett polnische Kinderlieder sang.
Fernweh war es, was sie selbst antrieb. Es gibt ein Foto, es ist ihr das liebste aus der Kinderzeit, das sie am Fenster zeigt, die Nase so fest gegen die Scheibe gepresst, dass diese fast zu springen droht. Schon immer wollte sie weg, raus aus der behüteten Familie, der bürgerlichen Stadt, „der ganzen Enge“. Mit 17 zog sie nach Israel. Um dort mit heimwehkranken Jeckes bei 38 Grad Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat zu essen und deutsche Kreuzworträtsel zu lösen. Für die Emigranten gab es kein Zurück, ihr Deutschland existierte nicht mehr. Aber die Liebe zur deutschen Kultur und Sprache, die Sehnsucht war ungebrochen.
Sehnsucht nach dem deutschen Wald
Oft ist es ja auch gar kein Ort, an den der Heimwehkranke sich zurücksehnt, zumindest kein realer, eher ein idealisierter – sondern eine Zeit. Die Kindheit, die Jugend, die Menschen von einst. Gila Lustiger erzählt vom Heimweh ihres israelischen Großvaters, der sich nach dem Kibbuz-Land von einst sehnte, „nach seinem Sozialismus“.
Lustiger ist seit knapp 30 Jahren in Paris zu Hause, hat gerade ein Buch über den Terror veröffentlicht: „Erschütterung“. Eigentlich redet die 53-Jährige mit dem Wuschelkopf gar nicht so gern über Themen wie Heimat und Heimweh, zu privat erscheinen diese ihr. Aber irgendwann erzählt sie von den Kräutern, die sie auf dem Pariser Kaminsims gezüchtet hat, für eine Original Frankfurter Grüne Sauce („kläglich gescheitert“). Oft spielt das Essen ja eine wichtige Rolle bei der Rekonstruktion von Heimat, gerade das Essen in Gemeinschaft. Erinnerungen gehen durch die Nase. „Wenn uns da etwas anweht“, so Edgar Reitz, „wird ein Erinnerungsstrom ausgelöst, eine ganze Bilderflut.“
Heimweh ist keine Kinderkrankheit
Irgendwann im Laufe des Gesprächs bekennt Gila Lustiger, mit leisem französischen Klang in der Stimme, widerstrebend – „das ist etwas, was ich Ihnen nicht gerne sage, aber ich sag’s trotzdem“ –, dass ihr der deutsche Wald fehlt. In Frankreich ist ihr die Natur zu zivilisiert, zu begradigt. Sie aber möchte sich verlieren können im Wald.
Es kann jeden erwischen, jederzeit. Heimweh ist ja keine Kinderkrankheit. Manchmal taucht der Schmerz erst im Alter auf. Wenn man sich nach Menschen sehnt, die nicht mehr leben, wenn man, eigentlich weitgereist, auf dem Bahnsteig steht, nicht mal 100 Kilometer von zu Hause weg, und einen die Sehnsucht nach dem Vertrauten wie ein Schmerz packt. Am allerschlimmsten in der Demenz, die man als einziges Heimweh beschreiben könnte: die wieder und wieder geäußerte Sehnsucht, nach Hause zu gehen, obwohl man zu Hause ist, dieses Gefühl, fremd, verlassen und unbehaust zu sein, getrennt von den Menschen, die man liebt.
Heimweh, erklärt der Baseler Mediziner Alexander Kiss, „ähnelt einem Trauerprozess. Entweder arbeitet man sich da durch oder bleibt darin stecken“. Doch selbst Demente, zum Steckenbleiben verurteilt, kann man für Momente aus dem Gefängnis herausholen. Durch Musik zum Beispiel, die Gefühle und Erinnerungen weckt, die besänftigen. Wenn sie nicht aufwühlen: Bei den Schweizer Legionären war es verboten, Berglieder zu spielen, die sichersten Heimweh-Erzeuger. Viele animierten sie zur Fahnenflucht.
Susanne Kippenberger