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Bad in der Menge: Bundespräsident Steinmeier bei der Zentralen Feier zum Tag der Deutschen Einheit in Mainz.
© dpa/Boris Roessler

Rede des Bundespräsidenten: "Sie können zeigen, dass Demokraten die besseren Lösungen haben"

Der Bundespräsident mahnt zum Tag der deutschen Einheit, dass Argumente weiter tragen als Empörung. Hier seine Rede beim Festakt in Mainz im Wortlaut des Manuskripts.

„Heimweh nach früher hab ich keins

Nach alten Kümmernissen

Deutschland Deutschland ist wieder eins

Nur ich bin noch zerrissen."

Wir feiern den Tag der Deutschen Einheit – wie jedes Jahr. Und wir feiern ihn zu Recht, den 3. Oktober, den Tag, an dem Ost und West in Deutschland wieder eins wurden.

Und doch ist in diesem Jahr etwas anders. Nicht nur Wolf Biermann, den ich zu Beginn zitiert habe, auch viele andere schauen mit Fragen, mit Sorgen, mit Verunsicherung auf die innere Einheit unseres Landes. Das ist die eine Seite des heutigen Tages. Sie ist deutlich zu spüren in diesem Jahr.

Aber es gibt auch eine andere Seite, und auch die sehe ich hier in unserem Saal versammelt: junge Menschen, Schülerinnen und Schüler aus 16 Bundesländern – seien Sie uns ganz besonders herzlich willkommen.

„Tag der Deutschen Einheit?“ werden Sie fragen: „Wieso eigentlich nur einmal im Jahr? Deutsche Einheit ist doch jeden Tag“ – 365 Tage im Jahr und das seit 27 Jahren. Anders haben Sie es gar nicht kennen gelernt. Eine ganze, junge, lebensfrohe Generation ist es schon, die im wiedervereinten Deutschland geboren und zuhause ist.

Liebe Jugendliche, Ihnen gehört die Zukunft dieses Landes! Und wir, die Generation der Eltern und Großeltern, sind in der Pflicht, das an Sie weiterzugeben, was vor 27 Jahren errungen wurde: ein vereintes, freies und friedliches Deutschland. Ganz gleich, was uns heute bewegt – ob Freude oder Zerrissenheit, ob Enttäuschung oder Hoffnung –, das vereinte Deutschland, ein freies und demokratisches Deutschland, ein Deutschland, das nicht mit Angst, sondern mit Zuversicht in die Zukunft schauen kann – dieses Deutschland sind wir unseren Kindern schuldig.

Liebe Jugendliche, ja, deutsche Einheit ist jeden Tag. Das bedeutet: Wir feiern heute etwas Alltägliches – aber eben nichts Selbstverständliches. Denen, die nach der Einheit geboren wurden, die nicht wissen können, wie das war, denen rate ich: Fragen Sie die, die dabei waren.

Fragen Sie unsere Gäste aus Osteuropa. Fragen Sie gerade jetzt auch die Menschen aus Polen oder Ungarn, deren Wille zur Freiheit und zur Demokratie den Ostblock ins Wanken brachte und der Mauer in Berlin die ersten Risse versetzte.

Fragen Sie die Ostdeutschen, die diese Mauer zum Einsturz brachten – nicht durch Hass, nicht mit Gewalt, sondern durch friedlichen Protest und mit großem Mut.

Fragen Sie die Staatsmänner oder realistischer ist: Googeln Sie die Staatsmänner im Westen wie im Osten, die uns zugetraut haben, dass auch ein vereintes Deutschland ein friedliches Deutschland sein wird.

Und fragen Sie – gerade in diesem Jahr – nach dem Staatsmann, nach dem deutschen Europäer hier aus Rheinland-Pfalz, der die historische Gunst der Stunde ergriffen und das Einigungswerk politisch ermöglicht hat: Helmut Kohl, der vor drei Monaten verstorben ist.

Das ist das Deutschland, in das Sie geboren wurden – ein Deutschland, das einen weiten Weg zurückgelegt hat: vom entfesselten Nationalismus, der Krieg und Verwüstung über Europa brachte, von einer geteilten Nation im Kalten Krieg hin zu einem demokratischen und starken Land in der Mitte Europas.

Meine Damen und Herren, unser Weg muss ein Weg in Frieden und Freundschaft mit den europäischen Nachbarn bleiben, und nie wieder ein Rückweg in den Nationalismus sein!

Bundespräsident Steinmeier mit seiner Frau Elke Büdenbeder und Kanzerlin Angela Merkel.
Bundespräsident Steinmeier mit seiner Frau Elke Büdenbeder und Kanzerlin Angela Merkel.
© dpa/AFP/Boris Roessler

Deutsche Einheit ist jeden Tag. Aber – spüren wir sie auch jeden Tag? Wann wird uns im Alltag eigentlich bewusst, dass wir Teil einer Gemeinschaft von 80 Millionen sind?

Für viele Menschen war das vor neun Tagen, am 24. September. Das freie und gleiche Wahlrecht verbindet uns – und das spüren wir jedes Mal, wenn wir mit unseren Nachbarn in der Schlange vor der Wahlkabine stehen. Am 24. September haben deutlich mehr Menschen als in den beiden letzten Bundestagswahlen von diesem stolzen Recht Gebrauch gemacht. Das ist die gute Nachricht.

Doch noch am selben Abend dominierte bei vielen von uns weniger das sichere Gefühl von Einheit, vielmehr der Blick auf ein Land, durch das sich unübersehbar große und kleine Risse ziehen.

Ich halte ganz und gar nichts von düsteren Abstiegsszenarien, aber ich finde, auch an einem Feiertag dürfen wir nicht so tun, als sei da nichts geschehen: „Abhaken und weiter so!“ Vor allem dürfen wir das Wahlergebnis nicht nur abladen bei Parteien, Fraktionen und Koalitionsverhandlungen. Sicher, die tragen jetzt große Verantwortung. Aber das Signal ging an uns alle, und wir müssen es beantworten – wir Deutsche.

Das beginnt mit der Frage: Wer ist das eigentlich – „wir Deutsche“? Heute, am 3. Oktober stellen wir fest: Ja, die deutsche Einheit ist politischer Alltag geworden. Die große Mauer quer durch unser Land ist weg. Aber am 24. September wurde deutlich: Es sind andere Mauern entstanden, weniger sichtbare, ohne Stacheldraht und Todesstreifen – aber Mauern, die unserem gemeinsamen „Wir“ im Wege stehen.

Ich meine die Mauern zwischen unseren Lebenswelten: zwischen Stadt und Land, online und offline, Arm und Reich, Alt und Jung – Mauern, hinter denen der eine vom anderen kaum noch etwas mitbekommt.

Ich meine die Mauern rund um die Echokammern im Internet; wo der Ton immer lauter und schriller wird, und trotzdem Sprachlosigkeit um sich greift, weil wir kaum noch dieselben Nachrichten hören, Zeitungen lesen, Sendungen sehen.

Und ich meine die Mauern aus Entfremdung, Enttäuschung oder Wut, die bei manchen so fest geworden sind, dass Argumente nicht mehr hindurchdringen. Hinter diesen Mauern wird tiefes Misstrauen geschürt, gegenüber der Demokratie und ihren Repräsentanten, dem sogenannten „Establishment“, zu dem wahlweise jeder gezählt wird – außer den selbsternannten Kämpfern gegen das Establishment.

Verstehen Sie mich richtig: Nicht alle, die sich abwenden, sind deshalb gleich Feinde der Demokratie. Aber sie alle fehlen der Demokratie. Gerade deshalb sollten wir am 3. Oktober vom 24. September nicht schweigen.

Natürlich, das erfordert Kontroverse. Differenzen gehören zu uns. Wir sind ein vielfältiges Land. Aber worauf es ankommt: Aus unseren Differenzen dürfen keine Feindschaften werden – aus Unterschied nicht Unversöhnlichkeit.

Dass das nicht politische Realität wird, das ist Aufgabe von Politik in dieser Zeit, und kein Ort ist dafür so wichtig wie das Parlament. Der 3. Oktober in diesem Jahr fällt in eine Zwischenzeit. Der alte Bundestag tritt nicht mehr zusammen, den neuen gibt es noch nicht. Doch gewiss ist: der Deutsche Bundestag, der vor neun Tagen gewählt wurde, wird anders sein. Er spiegelt die schärferen Gegensätze und auch die Unzufriedenheiten wider, die es in unserer Gesellschaft gibt. Die Debatten werden rauer, die politische Kultur wird sich verändern.

Doch Sie, verehrte Abgeordnete, die heute bei uns sind: Sie können der Demokratie jetzt einen großen Dienst erweisen. Sie können zeigen, dass Demokraten die besseren Lösungen haben als die, die Demokratie beschimpfen. Sie können beweisen, dass Wut am Ende die Übernahme von Verantwortung nicht ersetzt. Sie können beweisen, dass durch den Tabubruch vielleicht der nächste Talkshowplatz gesichert, aber noch kein einziges Problem gelöst ist. Ich bin überzeugt: Sie werden beweisen, dass Argumente weiter tragen als die Parolen der Empörung.

Argumente statt Empörung brauchen wir auch und gerade bei dem Thema, das unser Land in den letzten zwei Jahren so bewegt hat wie kein anderes – Flucht und Migration. Nirgendwo sonst stehen sich die Meinungslager so unversöhnlich gegenüber – bis hinein in die Familien, bis an den Abendbrottisch. Was für die einen kategorischer „humanitärer Imperativ“ ist, wird von anderen als angeblicher „Verrat am eigenen Volk“ beschimpft. Solange das Thema ein moralisches Kampfgebiet zwischen diesen beiden Polen bleibt, werden wir der eigentlichen Aufgabe nicht gerecht, nämlich die Wirklichkeit der Welt und die Möglichkeiten unseres Landes überein zu bringen.

Die Not von Menschen darf uns niemals gleichgültig sein. Und unser Grundgesetz garantiert den Schutz vor politischer Verfolgung, aus guten, in Deutschland auch historischen Gründen, an die wir uns erinnern müssen. Doch wir werden den politisch Verfolgten nur dann auch in Zukunft gerecht werden können, wenn wir die Unterscheidung darüber zurückgewinnen, wer politisch verfolgt oder wer auf der Flucht vor Armut ist.

Wir müssen uns ehrlich machen – in zweifacher Weise. Erstens, auch wenn sich hinter beiden Fluchtgründen menschliche Schicksale verbergen, sie sind nicht dasselbe und begründen nicht den gleichen uneingeschränkten Anspruch. Zweitens: Ehrlich machen müssen wir uns auch in der Frage, welche und wie viel Zuwanderung wir wollen, vielleicht sogar brauchen. Aus meiner Sicht gehört dazu, dass wir uns Migration nicht einfach wegwünschen, sondern – ganz jenseits von Asyl und den europäischen Anstrengungen – auch legale Zugänge nach Deutschland definieren, die Migration nach unseren Maßgaben steuert und kontrolliert. Nur wenn wir uns in beiden Fragen ehrlich machen, werden wir die Polarisierung in der Debatte überwinden. Ich bin sicher, wenn Politik sich dieser Aufgabe annimmt, gibt es eine Chance, die Mauern der Unversöhnlichkeit abzutragen, die in unserem Land gewachsen sind.

Die Debatte über Flucht und Migration hat Deutschland aufgewühlt. Sie ist aber auch Folge und Abbild einer aufgewühlten Welt. Mit Blick auf die Umbrüche, die vielen internationalen Krisen und Konflikte habe ich von vielen Bürgern in den letzten Jahren den Satz gehört: „Ich versteh die Welt nicht mehr“ – und ehrlich gesagt: Ich kann diesen Satz gut nachvollziehen.

In diesem Jahr und in meiner neuen Rolle habe ich aber noch einen anderen Satz gehört: „Ich versteh mein Land nicht mehr.“ Dieser Satz macht mir deutlich mehr zu schaffen.

Nach den G20-Protesten habe ich Ladenbesitzer aus der Hamburger Schanze getroffen, die sagten: „Wir mussten mit ansehen, wie aus ganz normalen Passanten Gaffer und Plünderer geworden sind.“

In Bitterfeld erzählte mir eine Frau: „Eigentlich wollte ich eine Wahlkampfrede anhören, aber da waren Mitbürger, Nachbarn, die haben mir mit ihren hasserfüllten Gesichtern richtig Angst gemacht.“

In Stuttgart traf ich einen Mitarbeiter aus der Autobranche, übrigens ein Sohn von türkischen Gastarbeitern, der sagte: „Jahrelang war ich stolz, dass ich in Deutschlands Vorzeigeindustrie arbeite. Jetzt fragen mich alle, ob ich mit betrogen habe.“

Und mehr als einmal habe ich im Osten gehört: „Mein Betrieb ist pleite, mein Dorf ist leer. Es ist ja gut, dass Ihr Euch um Europa kümmert – aber wer kümmert sich um uns?“

Das hören wir nicht gern an einem Feiertag. Aber wenn einer sagt „Ich fühle mich fremd im eigenen Land“, dann sollte niemand antworten: „Tja, die Zeiten haben sich halt geändert“. Wenn einer sagt „Ich versteh mein Land nicht mehr“, dann gibt es etwas zu tun in Deutschland – und zwar mehr als sich in guten Wachstumszahlen und Statistiken zeigt.

Denn verstehen und verstanden werden – das will jeder – und das braucht jeder, um sein Leben selbstbewusst zu führen. Verstehen und verstanden werden – das ist Heimat.

Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Mainz.
Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Mainz.
© dpa/Boris Roessler

Ich bin überzeugt, wer sich nach Heimat sehnt, der ist nicht von gestern. Im Gegenteil: je schneller die Welt sich um uns dreht, desto größer wird die Sehnsucht nach Heimat. Dorthin, wo ich mich auskenne, wo ich Orientierung habe und mich auf mein eigenes Urteil verlassen kann. Das ist im Strom der Veränderungen für viele schwerer geworden.

Diese Sehnsucht nach Heimat dürfen wir nicht denen überlassen, die Heimat konstruieren als ein „Wir gegen Die“; als Blödsinn von Blut und Boden; die eine heile deutsche Vergangenheit beschwören, die es so nie gegeben hat. Die Sehnsucht nach Heimat – nach Sicherheit, nach Entschleunigung, nach Zusammenhalt und Anerkennung –, die dürfen wir nicht den Nationalisten überlassen.

Ich glaube, Heimat weist in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit. Heimat ist der Ort, den wir als Gesellschaft erst schaffen. Heimat ist der Ort, an dem das „Wir“ Bedeutung bekommt. So ein Ort, der uns verbindet – über die Mauern unserer Lebenswelten hinweg –, den braucht ein demokratisches Gemeinwesen und den braucht auch Deutschland.

Auf meinen Reisen durch Deutschland mache ich die wunderbare Erfahrung: Wo Heimat ist, da gibt es viel zu erzählen. In Sönke Wortmanns neuem Film „Sommerfest“, einem Heimatfilm über das Ruhrgebiet, da sagt ein waschechter Bochumer: „Hömma..., Geschichten liegen hier überall auffer Straße rum – man musse nur aufheben.“

Ich finde, das muss der Anfang sein. Gehen wir nicht übereinander hinweg, sondern lesen wir unsere Geschichten auf. Wo nach dem 24. September jeder in seiner gesellschaftlichen Nische den Kopf geschüttelt hat, wo wir übereinander reden – und übereinander hinweg – da sollten wir wieder lernen, einander zuzuhören: wo wir herkommen, wo wir hinwollen, was uns wichtig ist.

Wenn ein Ostdeutscher erzählt, wie seine Heimat in der DDR sich nach der Wende radikal verändert hat – dass die neue Freiheit nicht nur Ziel von Sehnsucht, sondern auch eine Zumutung war, dass im Wandel vieles verloren ging, was man halten wollte – dann gehört auch das zu unseren deutschen Geschichten. Die Herstellung der Einheit war ein gewaltiges Werk. Natürlich wurden auch Fehler gemacht in den Jahren nach 1990 – und es gibt keinen Grund, darüber zu schweigen. Ostdeutsche haben nach der Wiedervereinigung Brüche erlebt, wie sie unsere Generation im Westen nie kannte. Und dennoch sind diese ostdeutschen Geschichten kein solch fester Bestandteil unseres „Wir“ geworden wie die des Westens. Ich finde: es ist an der Zeit, dass sie es werden.

Die mutige Anwältin und Autorin Seyran Ateş hat mir kürzlich erzählt: „Mir hüpft das Herz in der Brust, wenn ich in Istanbul den Bosporus wiedersehe. Und auf dem Rückweg nach Berlin hüpft mir das Herz, wenn ich den Fernsehturm wiedersehe.“ In ihrer Geschichte steckt etwas genauso Simples wie Wichtiges: Heimat gibt es auch im Plural. Ein Mensch kann mehr als eine Heimat haben, und neue Heimat finden. Das hat die Bundesrepublik für Millionen von Menschen bereits bewiesen. Sie alle sind Teil unseres „Wir“ geworden. Ganze Generationen von Einwanderern sagen heute voller Stolz: „Deutschland ist meine Heimat“, – und das hat uns bereichert.

Das sollte uns Zuversicht geben für die großen Integrationsaufgaben, die vor uns liegen. Doch wir dürfen auch sagen: Heimat ist offen – aber nicht beliebig.

Für die Neuen heißt das zunächst mal, unsere Sprache zu lernen. Ohne sie gibt es kein Verstehen und Verstanden-werden. Aber es heißt mehr als das. Wer in Deutschland Heimat sucht, kommt in eine Gemeinschaft, die geprägt ist von der Ordnung des Grundgesetzes und von gemeinsamen Überzeugungen: Rechtsstaatlichkeit, die Achtung der Verfassung, die Gleichberechtigung von Mann und Frau. All das ist nicht nur Gesetzestext, es ist für gelingendes Zusammenleben in Deutschland unverzichtbar.

Und schließlich, bei allen Debatten, bei allen Unterschieden – eines ist nicht verhandelbar in dieser deutschen Demokratie: das Bekenntnis zu unserer Geschichte, einer Geschichte, die für nachwachsende Generationen zwar nicht persönliche Schuld, aber bleibende Verantwortung bedeutet. Die Lehren zweier Weltkriege, die Lehren aus dem Holocaust, die Absage an jedes völkische Denken, an Rassismus und Antisemitismus, die Verantwortung für die Sicherheit Israels – all das gehört zum Deutsch-Sein dazu.

Und zum Deutsch-Werden gehört, unsere Geschichte anzuerkennen und anzunehmen. Das sage ich auch denen, die aus Osteuropa, Afrika oder den muslimisch geprägten Regionen des Mittleren Ostens zu uns gekommen sind. Wer in Deutschland Heimat sucht, kann nicht sagen: "Das ist Eure Geschichte, nicht meine".

Doch wie sollen wir dieses Bekenntnis von Zuwanderern erwarten, wenn es in der Mitte unserer Demokratie nicht unangefochten bleibt? Die Verantwortung vor unserer Geschichte kennt keine Schlussstriche – ich füge hinzu: erst recht nicht für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages.

Diesem Land anzugehören, bedeutet Anteil an seinen großen Vorzügen, aber eben auch an seiner einzigartigen historischen Verantwortung zu haben. Für mich gehört genau das zu einem aufgeklärten deutschen Patriotismus. Wenn uns in Deutschland etwas auszeichnet, dann ist es die langwierige, schwierige, ja schmerzhafte Aufarbeitung unserer Geschichte und der besondere Blick auf die tiefen Schatten, die genauso zu Deutschland gehören wie seine vielen hellen Seiten. Darauf können wir stolz sein.

Allzu oft habe ich nach der Bundestagswahl gelesen: Viele Menschen seien enttäuscht von Deutschland, von der Demokratie und ihren Institutionen. Wissen Sie, wer von der Bundesrepublik enttäuscht ist, der hat mal was von ihr erwartet.

Ich bin und bleibe überzeugt: Wir können viel von diesem Land erwarten. Ein Land, das sich aus mancher Krise befreit hat. Mit einer Politik, die offene Fragen nicht wegmoderiert, sondern die Zukunft in die Hand nimmt. So können wir das Deutschland schaffen, das die überwältigende Mehrheit der Deutschen sich wünscht:

Ein demokratisches Land, ein weltoffenes und europäisches Land, ein Land, das zusammenhält. Das wird so bleiben!

Das wird bleiben, weil es nicht die Besserwisser und Meckerer sind, nicht die ewig Empörten und nicht die, die ihre tägliche Wut auf alles und jeden pflegen. Nicht die prägen unser Land.

Nein, was mich so zuversichtlich macht, sind die Millionen anderen, die anpacken, die sich für das Gelingen und den Gemeinsinn in unserem Land täglich einsetzen.

Die – ohne, dass sie’s müssten – nach den kranken Nachbarn schauen, die im Altersheim vorlesen oder Flüchtlingen beim Ankommen helfen. Die Alleinerziehenden vielleicht einen freien Nachmittag schenken oder in unzähligen Vereinen für den kulturellen Reichtum unseres Landes sorgen, die das Leben auf dem Dorf lebenswert halten, die sich abends nach der Arbeit im Gemeinderat noch um Bücherei und Schwimmbad kümmern, die Sterbende in den letzten Stunden ihres Lebens begleiten. Alle die vielen, die sich um mehr kümmern als nur sich selbst.

Das, meine Damen und Herren, sind die, die unser Land zusammenhalten – allen Besserwissern zum Trotz. Das sind die, die Einheit stiften – jeden Tag neu.

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