SPD-Führung: Die Genossen erfreuen sich am offenen Streit
Die SPD ist einer Krise. Das wissen die Sozialdemokraten nur allzu gut. Nun proben sie eine neue Debattenkultur - in aller Offenheit und Öffentlichkeit.
Die SPD probiert zum Auftakt des Jahres eine neue Debattenkultur aus – und das in aller Öffentlichkeit. Mit den Worten „Das Gegenteil ist wahr“ attackierte Andreas Rimkus, Bundestagsabgeordneter aus Düsseldorf, am Mittwoch im Beisein vieler Journalisten seinen Genossen Stephan Weil.
Der niedersächsische Ministerpräsident hatte da gerade die strengen EU-Vorgaben für Abgaswerte scharf kritisiert und erklärt: „Mir widerstrebt es, dass man Ziele festlegt, ohne dass man sagt, wie man sie erreicht.“
Auch die Abgeordneten Arno Klare und Bernd Westphal warfen dem Mitglied des VW-Aufsichtsrats „Schwarz-Weiß-Denken“ vor und forderten ihn auf, ökologische Ziele nicht gegen Arbeitsplätze auszuspielen, da die SPD-Bundestagsfraktion längst Wege für einen Strukturwandel aufgezeigt habe. Die solle der Ministerpräsident doch gefälligst propagieren, lautete die Forderung der sichtlich verärgerten Parlamentarier.
Der presseöffentliche Zwist stellt für die Sozialdemokraten eine Premiere da. Denn zu ihrer erstmals gemeinsam veranstalteten Jahresauftaktklausur hatten die Landesgruppen Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen/Bremen, in der die Abgeordneten der beiden stärksten SPD-Länder organisiert sind, auch Journalisten eingeladen.
Die konnten die zweitägige, offene Debatte über die Stabilisierung der im vergangenen Jahr gebeutelten und schwer verunsicherten Partei fast vollständig verfolgen. Allein die Debatte der Abgeordneten mit Parteichefin Andrea Nahles fand wie meist hinter verschlossenen Türen statt – auf deren ausdrücklichen Wunsch.
Sie könne nicht die Abgeordneten der Gesamtfraktion, die sich erst an diesem Donnerstag in Berlin treffen, gleichsam vor vollendete Tatsachen stellen, begründete Nahles ihren Wunsch nach einem „geschützten Raum“ für die Debatte.
Für die Sozialdemokraten hatte das Jahr 2019 mit einer Botschaft begonnen, die viele Genossen verärgerte oder gar empörte. Denn Vizekanzler Olaf Scholz teilte den Bürgern per „Bild am Sonntag“-Interview mit, dass er sich die Aufgabe des Bundeskanzlers zutraue. Er löste damit eine Debatte aus, die zur inhaltlichen Profilierung der Partei nichts beiträgt.
Unzufriedenheit mit dem Führungsduo
Zudem scheint derzeit eher unwahrscheinlich, dass seine Partei ihn als Kanzlerkandidaten aufstellen würde. Die Unzufriedenheit mit dem Führungsduo Nahles und Scholz in der SPD ist weiter groß – und womöglich müsste sich jeder Aspirant einer Urwahl stellen.
Für einen solchen Mitgliederentscheid über den Spitzenkandidaten sprechen sich die Landesgruppen NRW und Niedersachsen/Bremen in einem gemeinsamen Papier aus. Nahles wollte sich im Hinblick auf eine Urwahl vor der Presse nicht festlegen. Sie komme „von einer skeptischen Grundhaltung“ sagte sie allerdings und versicherte, ihr Verhältnis zu Scholz habe durch dessen Vorstoß nicht gelitten, es sei „unverändert gut“.
Daran, dass die Situation der SPD im Jahr 2019 mit einer Europa-, vier Landtags- und vielen Kommunalwahlen existenziell kritisch ist, ließ in Osnabrück niemand einen Zweifel. „Jetzt sind wir in der Lage, wo wir noch ein, zwei Schüsse frei haben“, warnte NRW-Landeschef Sebastian Hartmann.
"Reale Politik für reale Menschen"
Er rief die eigene Partei auf, sich „zu besinnen“. Die SPD müsse sich „von manchem Kosmos verabschieden“ und „reale Politik für reale Menschen zu machen, indem wir reale Probleme lösen“. Als Beispiele nannte er staatliche Programme für bezahlbare Wohnungen und den Kampf gegen Spekulation mit Grund und Boden.
Dass allein die Europawahl für die EU, für Deutschland, aber vor allem auch für die SPD zur Schicksalswahl wird, machte der frühere Präsident des Europaparlaments Martin Schulz deutlich. „Wenn wir abschmieren, dann schmieren wir nicht nur dort ab“, warnte der Ex-Parteichef: „Dann wird es ganz schwierig.“
Auch sein Vorgänger Sigmar Gabriel mischte sich immer wieder mit pointierten Thesen in die Debatte ein – in die über Europa und den Brexit, aber auch in die über das Dilemma zwischen Ökologie und -Arbeitsplätzen, in der er Weil gegen die Kritik in Schutz nahm.
Gabriel warnt vor Verlust der klassischen Wählerschaft
Er sehe „nahezu einen perfekten Sturm, der sich gegen die SPD richtet“, warnte der Ex-Umwelt, Wirtschafts- und Außenminister: „Die Leute laufen uns in Scharen in der klassischen Wählerschaft davon, weil sie den Eindruck haben, wir lassen sie nach der Hartz IV-Debatte zum zweiten Mal im Stich.“
Die SPD unterschätze völlig, welche emotionale Betroffenheit apodiktische Ansagen zum Klimaschutz bei Beschäftigen in der Braunkohlebranche oder in der Automobilindustrie auslösten. „Die haben den Eindruck, hier kommt die nächste grüne Partei, wir stellen sie auf die falsche Seite der Geschichte.“ Stattdessen sollten die Sozialdemokraten die Arbeitsleistung der Menschen auch in diesen Branchen würdigen.
Der hart attackierte Weil lobte die Debatte: „Ich finde das eine ausgesprochen interessante Diskussion, das hat mir wirklich Spaß gemacht.“ Die sozialdemokratische Aufgabe sei es, unter den Stichworten Sicherheit und Zusammenhalt „den Leuten die Angst vor dem Wandel zu nehmen“.
Bevor Nahles sich hinter verschlossenen Türen der Debatte stellte, übte sie Selbstkritik. Die SPD müsse Politik aus der „Perspektive der tüchtigen und arbeitenden Menschen“ machen, aber es sei ihr im vergangenen Jahr nicht gelungen, diese „Grundmelodie, für die wir sehen, immer abzuliefern“.
Als Ziel für das schwierige Jahr 2019 gab sie „Klarheit über die eigenen Ziele“ aus und mahnte: „Wir sollten auch öffentlich mehr Politik und weniger über uns reden.“ Im Hinblick auf die Leistung der großen Koalition im neuen Jahr zeigte sich die SPD-Chefin optimistisch. Zum Treffen mit den Unionsvertretern im Kanzleramt vor zwei Tagen sagte sie: „Ich bin mit der Hoffnung rausgegangen, dass es 2019 besser wird.“