Debatte um gesamteuropäische Atomwaffen: Die Europäer bleiben auf die USA angewiesen – vorerst
Es ist Frankreichs Staatschef Macron zugute zu halten, dass er von den Europäern größere Anstrengungen im Verteidigungsbereich fordert. Ein Kommentar.
Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron ist ein stolzer Oberbefehlshaber. Welchen Stellenwert die militärische Schlagkraft Frankreichs für die Menschen im Nachbarland hat, wurde am Freitag bei Macrons Auftritt in der traditionsreichen militärischen Elite-Schmiede „École de Guerre“ deutlich. Dort erinnerte der Präsident an die Grundlagen der französischen Nuklearbewaffnung, die seit 60 Jahren und den Tagen von Macrons Amtsvorgänger Charles de Gaulle eine feste Größe ist. Frankreichs Nukleardoktrin lautet folgendermaßen: Staaten, welche die Freiheit des Nachbarlandes bedrohen, müssen mit einer atomaren Antwort rechnen.
Die nukleare Bewaffnung ist in Frankreich kaum umstritten
Was sich für deutsche Ohren martialisch anhört, gehört in Frankreich zum Konsens. Die Menschen mögen auf der anderen Seite des Rheins gegen Macrons Rentenreform auf die Straße gehen, aber die Notwendigkeit einer nuklearen „Force de Frappe“ ist weit gehend unbestritten. Dabei ist die Bedeutung der französischen Atomwaffen eher politischer als militärischer Natur. Sie festigen Frankreichs Einfluss im UN-Sicherheitsrat und sichern für Paris die Unabhängigkeit von Washington.
Vor diesem Hintergrund erscheint die Debatte, ob für die Europäer eines Tages der amerikanische Schutzschirm durch einen französischen ersetzt werden könnte, etwas verfehlt. Frankreich verfügt, wie Macron in seiner Rede darlegte, heute über weniger als 300 Nuklearsprengköpfe. Im Arsenal der USA befinden sich mehr als 6000 Sprengköpfe. Auch bei den konventionellen Waffen verfügen die USA über einen Bestand, der mit dem der beiden anderen „echten“ Supermächte Russland und China vergleichbar ist. Deshalb werden die Europäer auf absehbare Zeit militärisch auf die USA angewiesen bleiben.
Eine Beteiligung der EU-Partner im Nuklearbereich hat eher Symbolwert
Macrons Vorschlag, mit interessierten EU-Partnern einen „strategischen Dialog“ über die Rolle der französischen nuklearen Abschreckung zu führen und gemeinsame Militärübungen in diesem Bereich abzuhalten, hat eher symbolischen Charakter. In Deutschland dürfte die Idee kaum auf ungeteilte Zustimmung stoßen. Nicht nur Frankreichs Nuklearstrategie, die außerhalb der Nato-Gremien ersonnen wird, stößt in Deutschland bei breiten Bevölkerungsschichten auf Skepsis. Schon mit der hiesigen Präsenz amerikanischer Atomwaffen, denen der Ex-SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz und der frühere Außenminister Guido Westerwelle den Kampf ansagten, haben viele Bundesbürger noch längst nicht ihren Frieden gemacht.
Trotzdem ist es richtig, dass Macron in seiner Grundsatzrede zur französischen Nukleardoktrin die Europäer erneut aufforderte, sich künftig verstärkt eigenständig um ihre Sicherheit zu kümmern. Frankreichs Präsident hat dabei eine Zustandsbeschreibung der weltweiten Disruption abgeliefert, wie man sie in Deutschland nur selten hört. Die atomare Aufrüstung mittlerer Mächte, die gewachsene Unsicherheit in Europa nach der Aufkündigung des amerikanisch-russischen INF-Vertrages über die Begrenzung atomar bestückbarer Mittelstreckenraketen, der Cyberspace als neues Schlachtfeld – all dies zwingt die Europäer zu eigenständigen Antworten. Die neue Lage erfordert von den EU-Staaten vor allem verstärkte Verteidigungsausgaben. In diesem Punkt sind sich Macron und US-Präsident Donald Trump ausnahmsweise einmal einig.
Der Präsident bleibt auf dem Kurs der Sorbonne-Rede von 2017
Es ist Macron durchaus zugute zu halten, dass er in der Beschwörung der „europäischen Souveränität“ im Verteidigungsbereich unverdrossen bei seinem Kurs bleibt, den er schon in seiner Rede an der Pariser Sorbonne 2017 vorgegeben hat: Europa darf sich in einer Welt, die zunehmend von den USA und China dominiert wird, nicht mit der Rolle des Zaungastes zufrieden geben.
Dabei gibt es in der Praxis schon jetzt mehrere Ansätze bei einer grenzüberschreitenden militärischen Zusammenarbeit in Europa, die nach dem Wunsch des französischen Staatschefs so etwas wie eine gemeinsame Verteidigungskultur schaffen sollen. Dazu zählt beispielsweise die europäische Interventionsinitiative, die neben gemeinsamen Militäroperationen auch zivile Katastrophenhilfe zum Ziel hat. Ein Dutzend Staaten haben sich der Initiative bereits angeschlossen.
Gleichzeitig hat Frankreichs Staatschef aus dem Debakel gelernt, das seiner „Hirntod“-Diagnose für die Nato im vergangenen Jahr folgte. Macron verpackte seine Forderung nach der Erneuerung des transatlantischen Bündnisses bei seiner Rede an der „École de Guerre“ gewissermaßen in Watte. Frankreich komme seinen Verpflichtungen innerhalb der Nato treulich nach, beteuerte der französische Oberbefehlshaber.
Tatsächlich darf es beim notwendigen Ausbau der europäischen Verteidigungsfähigkeit nicht um die Frage gehen, ob dies mit oder ohne Washington geschehen solle. Mit dieser Feststellung hat Macron möglicherweise eine Brücke gebaut, über welche die Europäer in den nächsten Jahren gehen können.