Chaos-Ausstieg: Die EU verliert den Brexit-Poker
Die EU will die Brexit-Frist verlängern. Erleichterung ist fehl am Platz – denn die Gemeinschaft wird zur Geisel der britischen Innenpolitik. Ein Kommentar.
Das Blinzelspiel zwischen der EU und Großbritannien ist offenbar entschieden. Aus Furcht vor einem harten Brexit am Freitag knickt die EU, die sich an diesem Abend zum Gipfel in Brüssel versammelt, gerade ein. Angela Merkel und Co. haben der britischen Regierungschefin Theresa May schon vor dem Beginn des Gipfels signalisiert, dass sie eine Verlängerung der Brexit-Frist um mehrere Monate bekommt. Unterm Strich geht damit von Brüssel ein fatales Signal aus: Die EU, die sich so viel auf ihre Verhandlungsmacht einbildet, lässt sich durchaus in die Knie zwingen.
Die Tory-Hardliner dürfen sich bestätigt fühlen
Zunächst einmal dürfen sich die Tory-Hardliner in London bestätigt fühlen. Die Brexit-Ultras haben den EU-Austrittsvertrag ein ums andere Mal durchfallen lassen und einer machtlosen Premierministerin sowie den verbleibenden 27 EU-Staaten den Eindruck vermittelt, dass sie mit Freude in den Brexit-Abgrund gesprungen wären. Sie haben stets behauptet, dass die EU im Ringen um den Brexit am Ende doch beidrehen werde. Und sie haben Recht behalten. Der No-Deal-Brexit ist vom Tisch - zumindest vorerst. Aber das ist auch das Einzige, was sich mit einiger Klarheit sagen lässt.
Theresa May ist es nicht gelungen, ihr Versprechen fristgemäß umzusetzen und den Briten den Brexit zu liefern, für den sie sich beim Referendum im Juni 2016 ausgesprochen haben. Alle Optionen bleiben aber weiterhin auch in der Verlängerung, die sich nun abzeichnet, auf dem Tisch – ein ungeregelter Austritt, ein Austritt mit Deal oder überhaupt kein Austritt. Immerhin gibt die Verlängerung jetzt allen Beteiligten noch mehr Zeit, sich auf einen möglichen Chaos-Brexit vorzubereiten. Keiner will einen solchen ungeregelten Ausstieg, auch wenn er in erster Linie die Briten selbst wirtschaftlich treffen würde. Aber die EU sollte ihn am Ende der kommenden, hoffentlich allerletzten Frist als Druckmittel auf dem Tisch behalten.
Wenn der EU nun möglicherweise während des kommenden Sommers neue Brexit-Krisengipfel, neue Fristen und neue kurzfristige Verlängerungen erspart bleiben sollten, so mag das zunächst wie eine Erleichterung für alle vom Brexit frustrierten Bürger wirken. Bis auf Weiteres wird es keine Grenzkontrollen im Norden der irischen Insel geben. Und auch die deutsche Wirtschaft kommt um milliardenschwere Einbußen herum, die ein „harter Brexit“ zur Folge hätte. Aus EU-Sicht ist es zwar rational, dieses Worst-Case-Szenario erst einmal abzuwenden. Aber dafür zahlt die Gemeinschaft einen hohen Preis: Sie macht sich bis auf Weiteres zur Geisel der britischen Innenpolitik.
Dass die Briten demnächst möglicherweise an der Europawahl teilnehmen, ist dabei noch am ehesten zu verschmerzen. Falls es beispielsweise im kommenden Jahr doch noch zu einem EU-Austritt Großbritanniens kommen sollte, würde eine bizarre Situation entstehen: Die britischen Abgeordneten wären im Europaparlament erst einmal dabei, um es dann wieder zu verlassen. Doch für diesen Schlamassel wäre nicht die EU verantwortlich, sondern die Briten, die sich nicht entscheiden können. Rechtlich bleibt der EU keine Wahl – sie müsste die Briten bei der Europawahl zulassen.
Es gibt keine Gewähr für eine tragfähige Entscheidung in London
Viel schwerer als eine mögliche britische Teilnahme an der Europawahl wiegt ein anderes Risiko: Die Gemeinschaft der 27 Staaten hat keinerlei Gewähr dafür, dass sich die britische Politik demnächst irgendeine tragfähige Antwort auf die Gretchenfrage liefert: gehen oder doch bleiben? Und dann könnte es endgültig an der EU sein, eine Entscheidung zu treffen.