Interview mit Carsten Schneider: "Die Erneuerung der SPD wird ein langer Weg"
Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD, Carsten Schneider, über die Sozialdemokratie in der Opposition, ostdeutsche Interessen und "die Systemfrage".
Herr Schneider, hat die SPD begriffen, dass sie am Abgrund steht?
Ich glaube, wir brauchen noch ein halbes Jahr, um das ganze Ausmaß unserer Niederlage wirklich zu verstehen. Wenn die neue Regierung steht, dann wird vielen endgültig bewusst werden, dass wir die Politik nicht mehr direkt steuern können. Das ist natürlich schwer, weil wir gern gestalten. Trotzdem war die Entscheidung richtig, in die Opposition zu gehen.
20,5 Prozent bei der Bundestagswahl, im Osten hinter die AfD zurückgefallen und keine Machtperspektive im Bund in Sicht. Lässt sich das schnell heilen?
Das war kein einmaliger Ausrutscher, sondern diese Niederlage hat sich über viele Jahre langsam aufgebaut. Das macht sie ja so bedrohlich. Auch überschätzt bei uns niemand den Wahlsieg in Niedersachsen, so erfreulich er ist. Die SPD wird nicht plötzlich wie Phoenix aus der Asche wieder auferstehen, die Erneuerung wird ein langer Weg.
Die Lage ist bedrohlich, trotzdem verliert sich die SPD in Personalquerelen. Hat Parteichef Martin Schulz die Dinge noch im Griff?
Es sollte normal sein, dass sich mehrere um die zu vergebenden Positionen bewerben. Dann entscheidet die Mehrheit und wählt die Beste oder den Besten aus.
Wir hatten nach Martin Schulz gefragt ...
Ich kenne an der Parteibasis, zum Beispiel in meinem Heimatland Thüringen, niemanden, der seinen Führungsanspruch infrage stellt. Der Wahlkampf war natürlich kräftezehrend. Ein solches Wahlergebnis nach einem fulminanten Start muss man auch erst mal verdauen.
Schulz sagt, die SPD solle jünger und weiblicher werden. Aber abgesehen von Fraktionschefin Andrea Nahles sind nach der Wahl nur Männer aufgerückt in der SPD. Wie passt das zusammen?
Die wichtigste Personalentscheidung war doch, dass wir Andrea Nahles zur Fraktionsvorsitzenden gewählt haben. Die Zusammenarbeit mit ihr ist nicht nur sehr gut, sie macht auch Spaß. Die SPD im Bundestag meint es ernst mit der Gleichberechtigung. Wir werden auch künftig viele Frauen in der Fraktionsführung haben und werden viele Sprecherinnen in den Fach- Arbeitsgruppen wählen.
Vielleicht wird den Personalfragen so viel Bedeutung beigemessen, weil unklar ist, wohin Martin Schulz mit der SPD will. Wissen Sie es?
Die Frage wundert mich ein bisschen. Wir haben einstimmig ein wirklich gutes Programm für die Bundestagswahl beschlossen, das ist weiter die Grundlage für unsere Politik. Es lag nicht am Programm, dass wir verloren haben. Aber es hat an Zuspitzung gefehlt. Wir hatten viele Themen, aber kein Thema.
Welches Thema hätte die SPD denn stärker herausstellen müssen?
Wir hätten die Verteilungsfrage deutlicher stellen müssen. Das hat im TV-Duell gar keine Rolle gespielt. Höhere Löhne, gerechtere Arbeitsverhältnisse, weniger Überstunden, eine gerechtere Steuerpolitik mit höheren Steuern für große Einkommen und Entlastung der unteren und mittleren Bezüge – diese Themen treiben die Leute um.
Das kann doch nicht die einzige Ursache für die Niederlage gewesen sein ...
Stimmt. Die Leute haben uns nicht zugetraut, dass wir dieses Land auch führen können. Wir haben den Kanzlerkandidaten zu spät nominiert. Wir haben uns in der großen Koalition auf Problemlösungen konzentriert, anstatt Konflikte auch mal öffentlich auszutragen. Wir waren zu oft zu zahm.
Olaf Scholz, Parteivize und Hamburger Bürgermeister, warnt vor Ausflüchten: Die Niederlage sei nicht auf fehlende Konzentration auf das Thema soziale Gerechtigkeit zurückzuführen. Vielmehr müsse die SPD Gerechtigkeit und Wirtschaftskompetenz pragmatisch verbinden. Hat er recht?
Ja. Soziale Gerechtigkeit und eine dynamische Wirtschaft sind keine Gegensätze, sondern bedingen einander. Um erfolgreich zu sein, müssen wir unsere Kompetenzwerte auf beiden Feldern deutlich verbessern. Das allein reicht aber nicht. Ohne die notwendige Glaubwürdigkeit nützen auch die besten Kompetenzwerte nichts.
Martin Schulz hat nun erklärt, die SPD müsse die „Systemfrage“ stellen. Was heißt das denn?
Es gibt ein zunehmendes Unbehagen am beschleunigten Kapitalismus. Ökonomische Prinzipien durchdringen heute alle Lebensbereiche – von der immer hektischeren Arbeitswelt über auf Effizienz getrimmte Schulen bis hin zur Marktlogik im Gesundheitsbereich. Wir müssen grundsätzlich darüber reden, wie wir Wohlstand schaffen, ohne dabei zu vergessen, dass wir Menschen sind.
Heißt „Systemfrage“, die SPD will den Kapitalismus abschaffen?
Nein, aber wir werden die Perversionen des Kapitalismus bekämpfen.
Was meinen Sie damit?
Die globalisierte Wirtschaft bringt Oligopole hervor, etwa in der Digitalwirtschaft. Einige wenige Konzerne entziehen sich der staatlichen Kontrolle.
Diese Herrschaft der wenigen wollen Sie aufbrechen?
Richtig. Wir wollen Konzerne wie Facebook, Google und Microsoft entmachten, wenn sie sich demokratischen Regeln nicht beugen. Das gilt übrigens auch für die klassische Industrie. Etwa wenn Thyssen-Krupp im Zuge der Fusion mit dem indischen Unternehmen Tata Steel seinen Firmensitz in die Niederlande verlegt, um der betrieblichen Mitbestimmung oder Besteuerung in Deutschland zu entgehen.
Wie wollen Sie das durchsetzen?
Dafür brauchen wir die EU. Der Rückzug in einen abgeschotteten Nationalstaat, wie ihn AfD, FDP und Teile der Linken empfehlen, ist die falsche Antwort. Die SPD ist eine internationalistische Partei. Nicht national, sondern nur mithilfe der EU können wir unsere Vorstellungen von sozialer Marktwirtschaft gegen Weltkonzerne durchsetzen und dafür sorgen, dass der Markt demokratisch legitimierte Regeln akzeptiert – auch bei der Besteuerung.
Herr Schneider, Sie sind einer der wenigen führenden Sozialdemokraten aus Ostdeutschland. Warum ist die SPD in den neuen Ländern so schwach?
Bei der Bundestagswahl hat die SPD im Osten nicht den richtigen Ton getroffen. Den Ostdeutschen interessieren nämlich andere Themen als Menschen in Frankfurt oder Hamburg ...
Welche?
Soziale Fragen spielen eine größere Rolle. Wenn ich allein die Statistik meines Wahlkreises anschaue, weiß ich, warum ich nach Arbeitslosengeld, niedrigen Renten oder Wohngeld gefragt werde. Viele fühlen sich Westdeutschen gegenüber benachteiligt, sind es oft auch. Es wäre schon gut, wenn die Leute ordentliche Löhne hätten, mit denen sie sich auch mal einen anderen Urlaub leisten könnten als immer nur eine Woche an der Schwarzmeerküste in Bulgarien.
Werden die Ostdeutschen benachteiligt?
Das empfinden sie zumindest so, oft zu Recht. Es geht dabei auch um die Repräsentanz in den gesellschaftlichen Eliten. In Spitzenpositionen von Politik, Medien und Wirtschaft finden sich kaum Ostdeutsche, mit denen sich die Bewohner der neuen Länder identifizieren können. Da gibt es eine schmerzhafte Lücke.
Was wollen Sie tun, um die SPD im Osten wieder stärker zu machen?
Aufgabe der SPD ist es, um die enttäuschten Wähler der AfD und die Nichtwähler im Osten zu kämpfen. Wir müssen dort wieder die Meinungsführerschaft anstreben. Die Auseinandersetzung mit der AfD findet nicht in erster Linie in Hamburg oder München statt, sie muss vor allem in Oschatz, in Radebeul, in Bautzen, in Sondershausen und in Neuruppin ausgetragen werden. In Ostdeutschland entscheidet sich, ob wir die Rechtspopulisten wieder zurückdrängen können. Wenn das nicht gelingt, wird es finster.
Wie wollen Sie diesen Kampf gewinnen?
Wir müssen präsent sein, die Leute müssen wieder spüren, dass es uns gibt und dass wir uns um sie kümmern. Ein Beispiel: Wir haben drei SPD-Abgeordnete aus Thüringen, die AfD hat fünf. Wenn die SPD im Osten wieder aufholen will, brauchen wir eine stärkere Präsenz und dafür die Unterstützung der gesamten Partei. Wir müssen überall ansprechbar sein, nicht nur in einzelnen Stadtteilen, sondern gerade auch in den Plattenbauten.
Trifft die SPD den richtigen Ton im Umgang mit der AfD?
Da müssen wir besser werden. Es ist leicht, einen SPD-Parteitag zum Jubeln zu bringen, wenn man mit der AfD abrechnet. Aber jenseits des Parteitags bewirkt eine moralische Verurteilung der Partei wenig, und wir wollen ja die Menschen und nicht nur Parteitagsdelegierte überzeugen. Das heißt für uns: Wir müssen weniger verkopft werden, wir müssen eine einfachere Sprache sprechen.
Ist Angela Merkel schuld am Aufstieg der AfD?
Sie ist mitverantwortlich. Viele Menschen hatten den Eindruck, die Kanzlerin erlaube auf Dauer eine völlig ungesteuerte Einwanderung. Ohne sich dazu zu erklären. Bis heute beharrt sie ja darauf, sie habe keine Fehler gemacht. Dabei hat ihre Regierung die Flüchtlingspolitik längst korrigiert. Die Bundestagswahl war auch ein Plebiszit über Merkels Flüchtlingspolitik. Zum ersten Mal konnten die Bürger ihre Meinung dazu sagen. Und das haben sie dann ja auch getan ...
Moment mal, die SPD hat doch Merkels Flüchtlingspolitik immer mitgetragen?.
Nein, wir waren immer für eine Steuerung. Unser Fehler war, dass wir diesen Unterschied zu Merkel nicht deutlich gemacht haben. Wir wollen Zuwanderung steuern und unterscheiden zwischen den Menschen, die wir aufnehmen, weil sie unsere Hilfe brauchen, und denjenigen, die wir ins Land holen wollen, weil wir sie brauchen, um auf den demografischen Wandel und den Fachkräftemangel zu reagieren.
Hat die SPD genug Verständnis für Ängste vor Zuwanderung gezeigt?
Die Hauptlast der Integration tragen vor allem die sozial Schwachen, nicht die Mittelschicht und die Besserverdienenden. Ich sehe es in meiner Heimat: Die Geflüchteten werden in großen Plattenbauten einquartiert, nicht in Villenvierteln. Ihre Kinder gehen in Kindergärten und Schulen gemeinsam mit deutschen Kindern, von deren Eltern viele arbeitslos sind oder sehr wenig verdienen. In den eher privaten Kindergärten in den besseren Vierteln werden nicht Kinder aus 25 Nationen untergebracht. Sigmar Gabriel hatte vollkommen recht, als er den Sozialpakt für Deutschland durchgesetzt hat, der neben den Integrationsleistungen für Geflüchtete auch Maßnahmen für die Menschen hier enthielt, die nicht so gut gestellt sind.
Sind die Leute im Osten fremdenfeindlich?
Nein. Aber im Osten finden Sie eine homogenere Gesellschaft vor, da gab es bis zur Flüchtlingskrise in vielen Gemeinden fast keine Ausländer. Nun haben viele Angst, dass immer mehr Geflüchtete kommen und sie selbst irgendwann in der Minderheit sind. Auch solchen teilweise irrationalen Ängsten muss sich die SPD stellen. Mit dem moralischen Zeigefinger werden wir sie nicht zurückgewinnen.
Wie sollte die Jamaika-Koalition mit der AfD umgehen?
Jamaika ist eine Koalition der Besserverdienenden. Dieses Bündnis leugnet die soziale Schieflage in Deutschland. Wer kein Gespür für die Nöte der Menschen hat, wird sie auch nicht gewinnen.
Das Bündnis steht doch noch gar nicht ...
Wohin die Reise gehen soll, zeigen doch die Sondierungen über Finanzfragen diese Woche. Jede Form einer gerechteren Besteuerung wird ausgeschlossen, es wird keine Substanzbesteuerung, keine Vermögens- und keine Erbschaftssteuer geben. Es gibt auch keine Steuererhöhungen für Spitzenverdiener, stattdessen zusätzliche Subventionen für Wohnungs- und Eigenheimbesitzer. Und in der Klima- und Flüchtlingspolitik liegt zwischen den Parteien ein Marianengraben, der sich, wenn überhaupt, nur mit Scheinlösungen und Geld zuschütten lässt. Im Übrigen stehen bei den kleinen Partnern die Verteilung der Ministerien und die Zahl der Vizekanzler im Mittelpunkt. Bei der Union geht es darum, dass Frau Merkel Kanzlerin bleibt. Und das, obwohl auch ihre eigenen Leute wissen, dass ihre Zeit im Kanzleramt abläuft.