Angriff auf Israeli am Helmholtzplatz: Die Dimension antisemitischer Gewalt in Deutschland
Am Berliner Helmholtzplatz ist ein 21-jähriger Kippa tragender Israeli angegriffen worden. Solche Vorfälle sind in Deutschland kein Einzelfall.
Berlin, ein lauer Dienstagabend im April 2018: Ein junger Mann attackiert einen 21-jährigen Israeli. „Yahudi! Yahudi“, schreit er – Arabisch für „Jude! Jude!“. Er prügelt mit einem Gürtel auf den Israeli ein, immer wieder. Erst als ihn sein Begleiter wegzieht, lässt er von seinem Opfer ab. Es ist ein schockierendes Video, das sich von Berlin aus verbreitet. Am späten Mittwochabend gab es Irritationen, weil das Opfer der Deutschen Welle sagte, er sei kein Jude, sondern in Israel in einer arabischen Familie aufgewachsen. Die Kippa habe er als Experiment getragen. Ein Freund habe ihn gewarnt, man sei in Deutschland nicht sicher, wenn man eine Kippa trage. Das habe er nicht geglaubt, erklärte der Mann weiter. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat nach dem Angriff ihre Entschlossenheit im Kampf gegen Antisemitismus bekräftigt. Es sei ein „schrecklicher Vorfall“, sagte die Kanzlerin. „Der Kampf gegen antisemitische Ausschreitungen muss gewonnen werden.“ .
Wie häufig sind solche Fälle in Berlin?
Die Zahl antisemitischer Vorfälle in der Bundeshauptstadt hat laut Jahresbericht der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) 2017 um 60 Prozent zugenommen. Insgesamt seien im vergangenen Jahr 947 antisemitische Vorfälle in Berlin erfasst worden, 2016 waren es 590. Es handele sich um die höchste Zahl seit Beginn der Erfassung 2015, sagte RIAS-Projektleiter Benjamin Steinitz. Durchschnittlich würden der Informationsstelle jeden Tag zwei bis drei Vorfälle bekannt. Die Zunahme der Meldungen insgesamt führt RIAS auf einen höheren Bekanntheitsgrad der Informationsstelle zurück. RIAS erfasst auch Fälle, die keinen Straftatbestand erfüllen. Gerade niedrigschwellige Vorfälle prägten den Alltag von Jüdinnen und Juden, entfalteten ein bedrohliches Klima und beeinträchtigten das Leben der jüdischen Gemeinschaften Berlins, sagt Steinitz.
Wie viele Taten sind polizeilich registriert?
Auch die Zahl antisemitischer Straftaten in Berlin ist 2017 gestiegen. Vergangenes Jahr wurden bei der Polizei 288 antisemitisch motivierte Fälle registriert – was einer Verdopplung seit 2013 entspräche. Dies ging kürzlich aus einer Antwort von Innenstaatssekretär Christian Gaebler (SPD) auf eine Anfrage des Abgeordnetenhausmitglieds Peter Trapp (CDU) hervor. In der Gesamtzahl dominieren die Delikte rechter Judenhasser: Darunter sind drei antisemitische Gewalttaten und 261 weitere Delikte, die als politisch rechts motivierte Kriminalität bezeichnet werden. Fünf Delikte werden religiös motivierten Tätern, in der Regel fanatischen Muslimen, zugeordnet. 17 Straftaten begingen weitere Ausländer. Je eine Tat gelten als linke und „sonstige“ politisch motivierte Kriminalität.
Beamte, Lehrer und Sozialarbeiter nehmen an, die Steigerung der Zahl der Vorfälle hänge auch damit zusammen, dass in der Stadt nun mehr Einwanderer aus dem Nahen Osten lebten. Grundsätzlich bestehen Schwierigkeiten, antisemitische Taten nach Motiven zu sortieren: Eine „Juden raus“-Schmiererei wäre als Tat von Neonazis oder auch von Islamisten oder türkischen Rechtsnationalisten denkbar. An der verbreiteten Aussage, 90 Prozent der antisemitischen Taten würden von (deutschen) Rechtsextremen begangen, zweifeln nicht nur Beamte, sondern auch der vom Bundestag eingesetzte „Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus“. Der hatte vor einigen Monaten festgestellt, fremdenfeindliche und antisemitische Taten würden grundsätzlich der „politisch motivierten Kriminalität Rechts“ zugeordnet, „wenn keine weiteren Spezifika erkennbar“ wurden. „Damit entsteht möglicherweise ein nach rechts verzerrtes Bild über die Tatmotivation und den Täterkreis“, schrieben die Autoren des Expertenberichts.
Wie sieht es im Rest der Republik aus?
Endgültige Zahlen für 2017 sind bundesweit noch nicht bekannt. Die Polizei registrierte nach vorläufigen Erkenntnissen insgesamt 707 antisemitische Delikte, darunter 24 Gewalttaten. Zehn Menschen wurden von Judenhassern verletzt. Die Angaben ergeben sich aus den Antworten der Bundesregierung auf regelmäßige Anfragen von Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke). Demnach konnte die Polizei 302 Tatverdächtige ermitteln. Festgenommen wurden allerdings nur sechs und nur eine Person kam in Untersuchungshaft. Die Zahlen dürften aber noch höher ausfallen, da die Polizei erfahrungsgemäß viele Delikte nachmeldet.
Auch in dieser Statistik liegt die rechte Kriminalität gegen Juden weit vorn: Mindestens 651 antisemitische Delikte von rechts motivierten Tätern wurden gezählt. 16 Straftaten waren demnach von „ausländischer“ und 15 von „religiöser Ideologie“ motiviert – letztere also mit mutmaßlich islamistischem Hintergrund. Nur ein Delikt wurde als „links“ eingestuft, bei 24 Taten waren Motive der Täter nicht zu erkennen.
Auch die RIAS hat erstmals Vorfälle außerhalb Berlins erfasst. Für das Bundesgebiet erfuhr die Stelle von 322 Vorfällen, darunter 18 Angriffe, neun Bedrohungen und 72 Sachbeschädigungen. Ein bundesweites Meldenetzwerk für antisemitische Vorfälle sei erst im Aufbau, hieß es. Deshalb gehe man auch außerhalb Berlins von einer erheblich größeren Zahl nicht gemeldeter Vorfälle aus.
Wer sind die Opfer?
Betroffen von den Vorfällen waren 2017 laut RIAS 245 jüdische und nichtjüdische Einzelpersonen und in 461 Fällen jüdische oder israelische Institutionen und zivilgesellschaftliche Initiativen. Die Zahl der betroffenen Einzelpersonen lag gegenüber 2016 um 55 Prozent höher.
Stark zugenommen mit 679 Meldungen hätten auch Fälle verletzenden Verhaltens wie mündliche und schriftliche Anfeindungen oder Propaganda in Form von Schmierereien, Aufklebern und auf Versammlungen (2016 waren es 366). In 325 Fällen handelte es sich dabei um Hass-Mails oder Kommentare in sozialen Netzwerken (2016: 103). Die Anzahl der Sachbeschädigungen an jüdischem Eigentum oder Orten der Erinnerung an den Holocaust ging dagegen von 56 in 2016 auf 42 im vergangenen Jahr leicht zurück.
Wer sind die Täter?
Laut Statistiken sind viele rechtsextrem motiviert. Judenhass ist in der rechtsextremen Szene tatsächlich weit verbreitet: Bands grölen antisemitische Parolen, Neonazis schmieren Hakenkreuze und SS-Runen auf jüdische Grabmäler, im Internet wird pausenlos gehetzt.
Ein markantes Beispiel, notiert im Jahresbericht 2016 des Berliner Verfassungsschutzes: Die Neonazi-Gruppierung „Freie Kräfte Berlin Neukölln“ veröffentlichte am 9. November 2016, dem Jahrestag der Reichspogromnacht, bei Facebook eine Karte mit dem in Frakturschrift gehalten Titel „Juden unter uns!“ und nennt dort die Adressen von etwa 70 jüdischen Einrichtungen, darunter die israelische Botschaft, Synagogen, Schulen, Friedhöfe und Restaurants. Der Verfasser des Beitrags schrieb dazu: „heute ist so ein schöner Tag“ – offenkundig eine Aufforderung an Antisemiten , die Einrichtungen zu attackieren. Der bayerische Verfassungsschutz nennt in seinem Jahresbericht 2017 die Hetze der Neonazi-Partei „Der III. Weg“: Sie verbreite auf ihrer Webseite Handlungshinweise zum „Israel-Boykott“ und empfehle, Waren zu boykottieren und an Kundgebungen teilzunehmen.
Auch das American Jewish Committee (AJC) zweifelt an der Genauigkeit der Zahlen. Es erklärte, der Überfall in Berlin reihe sich in eine lange Liste, in denen die Täter oft einen muslimischen Hintergrund hätten. „Wir dürfen die Augen vor dem immer häufiger auftretenden Antisemitismus in Teilen der arabischen und muslimischen Community nicht verschließen“, sagte AJC-Direktorin Deidre Berger. Die Erfahrungen von 80 Prozent der Betroffenen sprächen gegen die Lesart der Statistiken, die meisten Fälle dem Rechtsextremismus zuzuordnen.
Dass unter Muslimen antisemitische Überzeugungen verbreitet sind, haben verschiedene Studien gezeigt. Der Islam-Experte Ahmad Mansour drängt dazu, Judenhass unter Muslimen klar zu benennen und zu handeln: „Wer hier auf diese Art und Weise Antisemitismus betreibt, hat in Deutschland nichts zu suchen“, sagte er dem Tagesspiegel. „Handeln bedeutet aber neben Repression auch, mittels Pädagogik und Aufklärung selbstbewusst Werte zu vermitteln und Antisemitismus präventiv zu bekämpfen. Dafür brauchen wir Projekte, die nicht antimuslimischen Rassismus mit Antisemitismus gleichstellen, sondern, die Probleme ohne Relativierung aus- und damit die Zielgruppe klar und deutlich ansprechen.“
Wie reagieren Deutschlands Juden?
Die jüdischen Gemeinden warnen seit Jahren vor der Zunahme von antisemitischen Attacken. „Innerhalb der jüdischen Gemeinschaften in Berlin ist die Sorge vor einem Anstieg des Antisemitismus groß“, sagt Sigmount Königsberg, der Antisemitismusbeauftragte der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. „Ob in der Schule, am Arbeitsplatz oder auf der Straße – fast alle haben schon einmal in ihrem Alltag Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht.“ Einzelne Gemeindemitglieder denken mittlerweile sogar darüber nach, Deutschland zu verlassen und nach Israel auszuwandern. „In den 70er Jahren saßen wir auf gepackten Koffern, in den 80ern haben wir sie im Keller verstaut – heute denken wir darüber nach, wieder zu packen.“