zum Hauptinhalt
Wachsende Bedrohung. Fünf Berliner Schulen meldeten der Polizei im vergangenen Jahr antisemitische Übergriffe. Alle wissen: Die Dunkelziffer ist hoch.
© Daniel Bockwoldt/dpa

Antisemitismus in Berliner Schulen: Der Jude als Klassenfeind

Beleidigt, bedroht, geschlagen. In den Schulen werden nicht nur - vermeintlich - homosexuelle, sondern auch jüdische Kinder angegriffen. Die Lehrer versuchen gegenzusteuern. Und stoßen an Grenzen. 

Plötzlich ist die Klasse still. Alle schauen nach vorn, zu Sabrina Oehler. Selbst Sinan und Mohammed hören auf zu zappeln, als Oehler mit schwerer Stimme ihren Unterricht beginnt. Sie spricht langsam, Satz für Satz. Die Kleinen sollen verstehen, dass der Hass auf Juden im Massenmord endete. Dass aus den Duschen in den Lagern kein Wasser kam, sondern Gas. Dass sechs Millionen Männer, Frauen, Kinder starben.

„Sechs Millionen“, sagt ein Junge. „Das sind so viele wie ein ganzes Land!“

Vielleicht ist mit dieser Reaktion schon das Ziel erreicht, mindestens ist sie ein Erfolg. Wahrscheinlich hat Sabrina Oehler an diesem Apriltag in Berlin-Neukölln mehr geschafft, als viele der gut gemeinten Ausstellungen, der Filme, der interreligiösen Tage. Denn all die Projekte, die Antisemitismus vorbeugen sollen, waren in einigen Schulen kaum wirksam – das hat dieser Frühling wieder gezeigt.

Der Junge, der gerade in der 5. Klasse der Hermann-Sander-Grundschule über den Holocaust staunt, hat türkische Eltern. Sein Sitznachbar stammt aus dem Libanon.

In dieser Schule werden viele Kinder unterrichtet, die gern als Herausforderung bezeichnet werden – oder als Problemschüler. Fast 560 Kinder besuchen die Schule nahe der Hermannstraße, 92 Prozent nichtdeutscher Herkunft, 80 Prozent aus Sozialhilfe-Haushalten, 30 Prozent ohne deutschen Pass. Und selbst in Familien, die einen haben, bezeichnen sich viele wie selbstverständlich als Araber, Türken, Albaner.

Von Raufereien am Nachmittag abgesehen, sind die meisten Schüler harmlos. Einige aber, berichtet ein Kind, haben sich kürzlich auf dem Schulweg mit „Jude“ angeschrien. Die Lehrer schließen das nicht aus, von anderen Schulen höre man so etwas in Berlin immer wieder.

Sie bedrohten ihn. Und schlugen zu

Damit ihre Kleinen mit so etwas gar nicht erst anfangen, liest Sabrina Oehler an diesem Projekttag „Papa Weidt“ mit der Klasse. Inge Deutschkron – bekannt durch ihre Autobiografie „Ich trug den gelben Stern“ – erzählt in diesem Kinderbuch von der jungen Alice, die nach Auschwitz deportiert wird.

Den Projekttag hatte Oehler – eine kräftige, geduldige Lehrerin mit kurzen, blonden Haaren – schon vor Monaten geplant. Kurz zuvor, im März, wurde in Berlin dann ein weiteres Mal besonders deutlich, was passieren kann, wenn Kinder mit Antisemitismus groß werden.

In Friedenau hatten einige Jungen einen jüdischen Mitschüler beleidigt, ihn auf dem Nachhauseweg verfolgt und dafür gesorgt, dass „der Jude“ von anderen gemieden wurde. Schließlich bedrohten sie den 14-Jährigen mit einer Spielzeugpistole, die wie eine echte Waffe aussah. Und schlugen zu.

Die Täter waren keine Neonazis, sondern Kinder arabischer und türkischer Einwanderer. Ihre Schule gehört zum Netzwerk „Schule ohne Rassismus“, einer verdienstvollen Initiative. Auch die Lehrer gelten als engagiert.

Anruf bei Dilek Kolat. Die Gesundheitssenatorin ist Patin der Schule, der Kiez der Wahlkreis der SPD-Frau. „Wir müssen Lehrkräfte stärken, solche Fälle offensiv anzugehen“, sagt Kolat. Die „angespannte Weltlage“ spiele eine Rolle: „Islamische Radikalisierung führt in bestimmten Kreisen zu mehr Antisemitismus. Das ändert nichts daran, dass die meisten Muslime keine Antisemiten sind.“

Am Montag hatte der vom Bundestag eingesetzte „Expertenkreis Antisemitismus“ seinen Bericht vorgelegt: Viele Juden sehen sich selbst „einer wachsenden Bedrohung“ ausgesetzt. Neben wachsendem Rechtspopulismus „wird auch der Antisemitismus unter Muslimen als Problem wahrgenommen“.

Die Statistik unterscheidet nicht immer, ob Neonazis oder radikale Muslime zugeschlagen haben - viele Täter können gar nicht ermittelt werden. Juden aus Berlin berichten jedoch, dass sie öfter von muslimischen Jugendlichen bedroht oder verfolgt werden - auch wenn viele Opfer sofort anfügen, nicht zu antimuslimischen Stimmungen beitragen zu wollen. So war es, als 2016 ein Jude in Treptow geschlagen wurde. Oder als in Mitte ein Burger-Brater zu einem Gast sagte, er bediene Juden nicht. Oder als Jugendliche 2015 einen Mann mit Kippa in Kreuzberg bespuckten - zuvor hatten dort Araber einen Juden verprügelt. Im vergangenen Jahr meldeten fünf Schulen der Polizei antisemitische Pöbeleien. Alle wissen, dass die Dunkelziffer hoch ist.

Und oft reicht es nicht für eine Anzeige. Etwa auf einem Gymnasium in Charlottenburg. Dort sollen Schüler im vergangenen Jahr antisemitische Witze gerissen haben, wenn sein jüdischer Sohn in der Nähe war, berichtet ein Vater.

Die Gestapo sperrte sie in Güterwagen, liest Mohammed vor

In Neukölln liest Mohammed gerade vor, dass Juden, „von der Gestapo aus ihren Wohnungen geholt, in Güterwagen gesperrt und abtransportiert“ wurden. Lehrerin Oehler wartet mit dem Weiterlesen und erklärt noch mal mit eigenen Worten, wie der Hass das Leben damals bestimmte: „Überall lauerten Leute, die jüdische Menschen umbringen wollten. Stellt euch mal vor, das wäre mit Muslimen passiert!“

Eine jüdische Lehrerin schrieb 2015 an den Tagesspiegel, dass es in Schulen nicht nur - die ohnehin äußerst wenigen - Juden trifft: „Da ist einer Christ? ,Du Hund! Beliebtestes Schimpfwort auf dem Schulhof und im Unterricht? ,Du Jude!“ Die Schulleitung sagte der Lehrerin seinerzeit: „Nun seien Sie mal nicht so empfindlich!“

Selbst im beschaulichen Friedenau ist der aktuelle Fall nicht der erste. Drei Fußminuten von der Schule entfernt, fragten im August 2012 arabische Jugendliche einen Rabbiner: „Bist du Jude?“ Und brachen ihm das Jochbein. Seine kleine Tochter stand daneben.

Fünf Jahre später läuft der Rabbiner durch Friedenau. Daniel Alter hat nach dem Überfall zusammen mit einem Imam selbst Schulklassen besucht. Er hat Kindern erklärt, was es mit dem Judentum auf sich hat, warum Toleranz und Respekt richtig sind, was Demokratie ausmacht. „Ich habe das gern getan“, sagt Alter. „Auch wenn es oft nicht einfach war.“ Mehrfach fehlten Schüler just dann, wenn er - der Jude - die Schule besuchte: Arabische Eltern hatten ihre Kinder für diesen Tag abgemeldet. Der Rabbiner sagt, der Kampf gegen Vorurteile gehört in die Lehrerausbildung.

Sicher, sagt Daniel Alter, es werde viel getan. „Aber überall ein bisschen, nicht koordiniert. Eine richtige Strategie gegen Antisemitismus fehlt.“ Alter läuft an der Schule vorbei, über die gerade intensiv diskutiert wurde. Er sagt, er möchte nicht „belehrend und vorwurfsvoll“ wirken, nicht als Nörgler gelten. Ganz so, als müsse er sich entschuldigen, dass er auch die politische Korrektheit beklagt, die dazu führe, dass viele über Antisemitismus hinwegsehen, wenn er von Muslimen ausgeht. „Viele Pädagogen haben kein Problembewusstsein“, sagt Alter, „oder aufgegeben. Ein Werteruck müsste durch die Gesellschaft gehen. Antisemiten verfolgen ja nicht nur Juden, sondern lehnen die offene, demokratische Gesellschaft ab.“

An der Friedenauer Schule stammen viele Kinder aus türkischen und arabischen Familien - öffentliches Bedauern fehlt von ihnen bis heute. Nach dem Angriff auf den jüdischen Jungen schrieben allerdings einige nichtmuslimische Eltern einen offenen Brief. Sie erklärten, dass die Stadt „vor den Auswüchsen internationaler Konflikte, wie des Nahostkonflikts, nicht verschont bleiben kann“ und sorgten sich, dass der Fall jetzt denjenigen nutzen könne, die „islamfeindliche Tendenzen verfolgen“.

Sie schreien: „Jude“, „Schwuchtel“, „Christ“, „Armenier“!

Daniel Alter zieht sein Basecap tiefer in die Stirn, klingt resigniert. „Mit absurdem Halbwissen über die Konflikte im Nahen Osten werden scheinbar rationale Erklärungen für Antisemitismus und Rassismus geliefert“, sagt er. „Kein Wunder, dass in Berlin einige ,Hamas, Hamas - Juden ins Gas gerufen haben.“

Was also tun, wenn sich ganze Cliquen auf einen - mitunter: vermeintlichen - Juden stürzen? „Bei jedem Vorfall schnell, aufklärend und deutlich reagieren“, sagt Micha Brumlik. Der frühere Professor ist nicht nur Antisemitismusforscher, sondern auch Erziehungswissenschaftler. Brumlik arbeitet heute am Zentrum für Jüdische Studien in Berlin. Unter Kindern, sagt Brumlik, deren Familien aus Palästina, Libanon und Syrien kommen, ist Antisemitismus verbreitet - wobei die Unterschiede im Einzelfall groß sind. Je nach Zusammensetzung der Klassen brauchen die Lehrer ihm zufolge Hilfe: „Am besten schon bei geringen Anlässen die Schüler aufklären, Fakten vermitteln, auf Richtigstellung drängen.“

Immer wieder ziehen Schüler den Nahost-Konflikt heran, um antisemitische Sprüche zu rechtfertigen. Die Lehrerin einer Schule in Mitte, deren Vorgesetzte einen Klassenbesuch ablehnten, meldet sich später telefonisch. Sie sagt, ihre Schüler betrachten den Holocaust hartnäckig als etwas, das die Israelis erfunden haben. „Die Eltern lassen keine andere Sicht zu, die Shoa ist Propaganda der Ungläubigen“, sagt die Lehrerin. „Die haben nie Juden gesehen, abgesehen davon, dass die Familien kaum das Viertel verlassen.“ Rassisten, berichtet die Lehrerin, sind für viele ihrer Schüler immer nur Deutsche. „Und es leiden auch nur arme Muslime. Dass Deutschland diese armen Muslime aufgenommen hat, spielt keine Rolle.“ Halbwüchsige rufen inzwischen nicht nur „Jude“ oder „Schwuchtel“, um Mitschüler zu beleidigen, sondern „Christ“, „Zigeuner“, manchmal „Kurde“ und „Armenier“. Die Lehrerin, deren Eltern einst vom Balkan kamen, glaubt beobachtet zu haben, dass Schüler die Angst der Lehrer vor einem Rassismusvorwurf spüren.

„In irgendein Lager“, liest Mohammed in Neukölln weiter. „Man hörte nie wieder was von ihnen.“ Die Klasse, sie lauscht. Sabrina Oehler sagt, dass es nicht immer so still ist.

Projekte gibt es viele. Staatlich geförderte Sozialpädagogen, Imame, junge und alte Juden besuchen Schulen. Das Büro von Bildungssenatorin Sandra Scheeres, SPD, teilt mit, die Lehrpläne bieten „vielfältige Anknüpfungspunkte“ für die Auseinandersetzung mit Antisemitismus. Es gibt Fortbildungen für Pädagogen, vergangenes Schuljahr startete zudem das Projekt „Demokratie stärken - aktiv gegen Salafismus und Antisemitismus“, 50 Lehrer nehmen daran teil.

Es fehlt ein Antisemitismusbeauftragter

Die Lage wäre sonst wohl noch schlimmer. Eine Instanz jedoch, die Projekte auf ihren Erfolg prüft, fehlt. Einen koordinierenden Antisemitismusbeauftragten gibt es weder im Land noch im Bund, der Expertenkreis des Bundestages forderte am Montag, einen solchen Fachmann endlich zu berufen. Schon im Antisemitismus-Bericht von 2011 hatte die Bundesregierung empfohlen: „Als Länderaufgabe sollte die Lehrerfortbildung in den notwendigen Strukturen erhalten beziehungsweise adäquat ausgebaut werden und mit entsprechenden Angeboten eine zentrale Rolle in der aktiven Antisemitismus- und Vorurteilsprävention einnehmen können.“ Was bedeutet das in den Klassenzimmern?

„Zunächst muss man allen klarmachen, dass der Unterricht wichtig ist“, wird Rita Schlegel am Ende des Schultages in Neukölln sagen. „Und zwar jede Stunde!“ Schlegel ist die Chefin von Sabrina Oehler. Eine resolute Schulleiterin, beliebt, aber mehr noch respektiert. Die Fingernägel lang und bunt, ihr Auto groß und schnell. „Bei uns gibts in jeder Klasse, jede Woche eine Stunde soziales Lernen“, sagt sie. „Das ist auch nötig.“ Dann geht es darum, was Toleranz, Freundschaft, Zusammenleben der Religionen ausmachen.

„Schule läuft anders als vor 40 Jahren“, sagt Schlegel. „Wir haben einen Erziehungsauftrag, denn nicht alle Eltern machen das von selbst.“ Sie beobachtet, dass viele Kinder in zwei Welten leben. In der Schule das offizielle Deutschland. Zu Hause das Heimatland der Eltern - oder Großeltern. Schlegel, da wird ihre Stimme noch rauer, sagt: „Ich erkläre den Eltern immer deutlich, wir leben in einer Demokratie, im Rechtsstaat.“

Die Direktorin spricht von „gesundem Druck“, inzwischen kommen 75 Prozent der Väter und Mütter zum Elternabend. Nur so lernen viele Deutschland kennen, hören von Museen, Parks, anderen Stadtteilen. „Immer in der eigenen Straße bleiben“, sagt Schlegel, „macht es den Kindern nicht einfach.“

Zum Ende der Stunde nimmt Sabrina Oehler noch Sinan dran. „Alice kam nach Aus..., Ausch..., Auschwitz“, liest Sinan angestrengt vor. „Das war ein Todes...lager.“ Nach dem Pausenklingeln sagt der Junge, der zu Beginn der Stunde über die sechs Millionen Toten staunte: „Also ich fand das Buch gut. Na ja, damit ich weiß, was war.“ Vielleicht hat Sabrina Oehler dazu beigetragen, dass das Leben für Juden ein bisschen sicherer wird.

Zur Startseite