Merkel besorgt über Corona-Mutante: Die Angst vor B117 – droht nun der Wirtschafts-Lockdown?
Die mutierte Virus-Variante aus Großbritannien breitet sich in Deutschland aus. Das hat Folgen und Minister Spahn versucht, die "Blackbox" zu entschlüsseln.
Kanzlerin Angela Merkel hat oft Recht behalten in der Corona-Pandemie, am Wochenende hat sie prophezeit: "Diese nächsten Winterwochen sind die wohl schwierigste Phase der Pandemie." Was sie über Mutationen des Virus höre, mache die Sorgen nicht geringer –"im Gegenteil". Die ansteckendere Coronavirus-Variante B117 ist auch in Berlin aufgetaucht, sie war es bei einem zu Weihnachten aus Großbritannien eingereisten Studenten festgestellt worden, der weitere Familienmitglieder ansteckte.
In Baden-Württemberg, Sachsen und Bayern ist die Mutante auch bestätigt worden. Das könnte zu einer Verschärfung und Verlängerung des Lockdowns führen.
In London, im Süden Englands, in Irland und Dänemark hat sich die B117-Variante bereits stark ausgebreitet. Sie trägt, soweit das aus Daten ablesebar ist, dort jeden Tag mehr zur fulminanten Zunahme der täglich gemeldeten Neuinfektionen bei.
Vielerorts zeigt sich dort unter Einschränkungen und Schutzmaßnahmen, die die "alten" Varianten des Coronavirus ausbremsen konnten, jetzt ein exponentielles Wachstum an Neuinfektionen, das das Gesundheitssystem überlastet: Die statistischen Kurven steigen fast senkrecht an. Die Virologin Isabella Eckerle von der Uni Genf vermutet, dass B117 bald europaweit die dominierende Coronavirus-Variante sein wird.
Was weiß man über die Mutation – und was nicht?
Die zuerst in England nachgewiesene B117-Mutation scheint deutlich infektiöser zu sein als die bisherigen Varianten: Weniger Viren in der eingeatmeten Luft als bisher könnten ausreichen, um eine Infektion auszulösen. Dazu fehlen aber noch abschließende wissenschaftliche Daten. Das gilt auch für die Wahrscheinlichkeit, schwere Verläufe der Krankheit Covid-19 auszulösen. Bislang sieht es so aus, dass die Mutation hierauf keinen Einfluss hat. Auch Impfungen scheinen gegen sie ebenso effektiv zu sein wie bisher.
In Südafrika ist eine weitere Variante des Coronavirus aufgetaucht: 501.V2. Sie scheint weniger ansteckend zu sein als B117 – aber doch ansteckender als die bisherigen Varianten. Wie gegen sie die Impfstoffe wirken, ist noch unklar, aber es gibt erste Hinweise, dass der Biontech/Pfizer-Imfstoff auch gegen die mutierte Variante wirksam sein könnte.
Wie konnte sich die neue Variante so schnell ausbreiten?
In Großbritannien ist nachgewiesen, dass die Mutante sich zunächst bei zur Schule gehenden Kindern verbreitete und dann in die höheren Altersgruppen wanderte. Offene Schulen haben also eine große Rolle gespielt. Als verheerend könnte sich deshalb der Aufruf von Premier Johnson am 3. Januar herausstellen, die Kinder am nächsten Tag in die Schule zu schicken. Schon am Abend des 4. Januar wurden die Schulen wieder geschlossen, aber für einen Tag waren dadurch wieder neue Infektionsketten möglich.
In Irland hatte ein Lockdown gute Wirkung gezeigt, aber der Anteil der leichter übertragbaren Variante an den Neuinfektionen nahm massiv zu. Nach Lockerung der Maßnahmen breitete sie sich dann fast ungehindert aus.
Muss der Lockdown in Deutschland deshalb verschärft werden?
Eigentlich wollen Merkel und die Regierungschefs der Bundesländer erst am 25. Januar beraten, wie es mit dem bis Ende Januar befristeten Lockdown, mit dem Schulunterricht und den Kitas weitergehen soll. Doch zum Beispiel in Berlin ist die Zahl der Neuinfektionen schon wieder auf fast 200 je 100.000 Einwohner in sieben Tagen gestiegen.
Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach betont, nach der neuesten Studienlage sei die Variante zu 40 Prozent mehr ansteckend. "Das gilt sowohl beim direkten Kontakt, wie ein Gespräch, wie auch beim indirekten Kontakt, zum Beispiel im Klassenraum oder einem Restaurant durch die Aerosole." Daher sei die Mutante wirklich sehr gefährlich. "Das Problem lässt sich nicht schnell wegimpfen. Denn wir werden in den ersten sechs Monaten definitiv weniger Impfstoff haben, als wir benötigen", sagt Lauterbach im Gespräch mit dem Tagesspiegel.
Wenn man die Infektionslage jetzt nicht in den Griff bekomme, „sehe ich uns in großen Problemen für viele Monate“. Notfalls müsse das Wirtschaftsleben drastisch heruntergefahren werden. "Wir haben uns bei dem, was wir gemacht haben, sehr stark auf das Private und die Schulen konzentriert. Wenn das nicht reicht, dann müssen wir tatsächlich auch an die Betriebe herangehen", sagt er. "Das wird schlicht nicht anders gehen."
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Auch die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, bringt eine Verschärfung ins Spiel. "Millionen Beschäftigte sind täglich von Infektionen bedroht, weil Schutzmaßnahmen in Unternehmen nicht ausreichen, ohne Not Präsenzpflicht eingefordert wird oder Risiken durch die Anfahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht mitgedacht werden", sagt sie.
Bund und Länder hätten bei Einzelhandel, Kultur und Schulen zwar harte Maßnahmen ergriffen. „Dass es für große Bereiche der Wirtschaft und Arbeitswelt aber weiter kaum klare verpflichtende Regeln gibt, ist nicht mehr nachvollziehbar und absolut unverantwortlich.“ Göring- Eckardt forderte, Homeoffice auch mit Bußgeldern für Firmen durchzusetzen. Als erster Ministerpräsident hatte sich zuletzt Thüringens Regierungschef Bodo Ramelow (Linke) für ein drastisches Herunterfahren der Wirtschaft ausgesprochen.
Wie machen es andere?
Die Entwicklung in England legt nahe, dass zumindest die reale Umsetzung von Maßnahmen und Vorsichtsregeln möglicherweise nicht ausreichen, um die Zahl der Neuinfektionen und Erkrankungen in beherrschbarem Rahmen zu halten. In Regionen in London, wo sich die neue Variante bereits massiv verbreitet hat, sind verschärfte Lockdowns, weitere Kontaktbeschränkungen neben einem erhöhten bevölkerungsweiten Problembewusstsein und persönlichen Verhaltensanpassungen wohl die einzigen Optionen.
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In Regionen, wo die neue Variante noch nicht so häufig ist, etwa in Deutschland, könnten nach Ansicht des Infektionsforschers Marc Lipsitch von Massachusetts Institute of Technology (MIT) gezielte Änderungen der derzeitigen Praxis aber noch den entscheidenden Unterschied machen: Nicht alles „Erlaubte“ voll ausschöpfen, Maske tragen auch bei erlaubten Besuchen und Kontakten, Kinder nicht in Schule und Kita schicken. Auch korrekt und konsequent getragene FFP2- Masken könnten sehr effektiv sein.
Was fordern Virologen und Epidemiologen?
Bei der Kontaktverfolgung durch Gesundheitsämter, fordern Lipsitch und der MIT- Evolutionsforscher Kevin Esveld, müsse bei Auftreten der Variante „alles andere stehen und liegen gelassen“ werden, um alle Ressourcen einzusetzen, die Infektionsketten zu unterbrechen. Sie halten es auch für sinnvoll, Gegenden, wo B117 beginnt, sich auszubreiten, bei der Zuteilung von Impfstoff zu priorisieren.
Wie kann die Wissenschaft helfen?
Zusammen mit dem MIT-Evolutionsforscher Kevin Esveld schlägt Lipsitch im Magazin „Stat“ vor, deutlich mehr positive Tests einer Gensequenzierung zu unterziehen, die die Virusvarianten feststellt. Dann ließen diese sich auch besser verfolgen und beurteilen. Auch einige „normale“, bereits massenweise produzierte Tests könnten, leicht modifiziert, Veränderungen der B117-Variante anzeigen.
Warum wird das in Deutschland bisher kaum gemacht?
Um eine neue Mutante festzustellen, muss die Gensequenz eines Virus untersucht werden. Das passiert in Deutschland im Unterschied zu England oder Südafrika sehr selten. Ein Grund ist, so Jörg Timm, Leiter des Instituts für Virologie des Universitätsklinikums Düsseldorf, „die fehlende finanzielle Ausstattung für die SARS-CoV-2-Sequenzierung.“ Das Nationale Forschungsnetzwerk der Universitätsmedizin wäre eigentlich „die ideale Plattform für eine entsprechende Überwachung von Virusvarianten gewesen.“ Man habe hier „eine große Chance verpasst.“ Auch der Charité-Virologe Christian Drosten sagte kürzlich in seinem NDR-„Corona- Podcast“, allein die Logistik sei angesichts der ohnehin überlasteten Labore schwierig, und die Sequenzierung werde meist auch „gar nicht bezahlt“.
Wer hat diese Versäumnisse zu verantworten?
Nach dem mangelhaften Schutz in Alten- und Pflegeheimen und der lange fehlenden Testpflicht für Besucher und Bedienstete sowie dem holprigen Impfstart wird dies ebenfalls vor allem dem Krisenmanagement von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) angelastet. „Es ist absolut sein Versäumnis“, sagt der Grünen-Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen.
Er verweist auf deutliche Warnungen der Wissenschaft schon vor Ausbruch der Pandemie, dass Deutschland erhebliche Defizite bei der Genom-Sequenzierung habe. Während hier nur etwa jeder 900. positive Corona-Test so einer Analyse unterzogen wird, geschieht das in Großbritannien mit etwa jedem 20. – deshalb gibt es dort genauere Zahlen zum Ausmaß der Verbreitung. Schon am 19. November 2019, also vor dem Bekanntwerden eines Sars-CoV-2-Ausbruchs, hatten die Gesellschaft für Virologie und die Deutsche Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie an Spahn appelliert, ein ministerielles Eingreifen sei unausweichlich geworden. Bei einem Ausbruch würden „die Möglichkeiten der molekularen Surveillance“, also der Überwachung mittels Genanalyse fehlen, heißt es in dem Brief nach Angaben von NDR, WDR und „Süddeutscher Zeitung“.
Diese Warnungen verhallten, der Großteil der Untersuchungen findet heute in Drostens Charité-Labor statt, mehr gibt es kaum. "Die geringe Datenbasis zur Verbreitung von Corona-Mutationen in Deutschland ist eine große Gefahr", sagte der FDP-Vorsitzende Christian Lindner dem Tagesspiegel. Die Bundesregierung habe die systematische Sequenzierung von Corona-Testproben lange schleifen lassen. "Eine umfassende Sequenzierung muss schnell Teil der Anti-Corona-Strategie werden", so Lindner.
Und jetzt?
„Wir haben eine völlige Blackbox bei der Bedrohungslage“, sagt Dahmen, man sei Lichtjahre hinter Großbritannien. Die gesundheitspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion, Christine Aschenberg- Dugnus, verlangt dringend mehr und schnellere Sequenzierungen: „Aktuell haben wir eine brandgefährliche Wissenslücke, welche Mutationen in welchem Umfang in Deutschland im Umlauf sind.“ Bisher seien dem Robert- Koch-Institut nur 2865 vorgenommene Genomsequenzen in Deutschland bekannt, erklärte Spahns Ministerium auf Anfrage.
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Klar sei, dass künftig mehr sequenziert werden solle: „Wir arbeiten mit Hochdruck an einer neuen Verordnung dazu. Damit sollen Labore zur molekularen Surveillance verpflichtet werden. Grundlage ist das 3. Bevölkerungsschutzgesetz“, sagt ein Sprecher Spahns am Sonntag. Und siehe da: Am, Montagmittag ist die Verordnung fertig, die die Zahl der entsprechenden Laboruntersuchungen deutlich erhöhen soll, „damit kurzfristig mehr Genomsequenzdaten der in Deutschland zirkulierenden Varianten des Coronavirus SARS-CoV-2 für derartige Analysen zur Verfügung stehen“, wie es in dem Entwurf heißt, der dem Tagesspiegel vorliegt. Er soll am Mittwoch vom Kabinett beschlossen und dann umgehend in Kraft treten. Jedes Labor soll 200 Euro je Sequenzierung bekommen, damit diese "Blackbox" sozusagen mehr entschlüsselt werden kann.
Drohen weitere Mutationen?
Weil sich das Virus weltweit sehr stark verbreitet, hat es sehr viele Gelegenheiten, zu mutieren. Und weil die Verbreitung nicht effektiv eingedämmt ist, haben die Mutanten Gelegenheit, sich auch zu verbreiten.
Jene, die effektiver darin sind, Menschen anzustecken, verbreiten sich logischerweise schneller. So werden jeden Tag neue Mutanten nachgewiesen – am Sonntag kam eine Meldung aus Japan. Die meisten sind bedeutungslos. Doch auch eine einzige Variante, die so wie B117 viele dem Virus Vorteile bringenden Mutationen beinhaltet, kann sich potenziell über den gesamten Globus ausbreiten.
Dabei könnten sich auch Varianten durchsetzen, die deutlich infektiöser, dabei aber deutlich weniger krank machen. Aber auch Varianten, gegen die verfügbare Impfungen weniger oder gar nicht mehr wirken, sind denkbar. Sind aber der Mensch, in dem sich eine Mutation entwickelt hat, und seine unmittelbaren Kontaktpersonen effektiv in Quarantäne, wird diese Variante sofort wieder aussterben und dem Rest der Menschheit erspart bleiben. Deshalb halten es Infektiologen jetzt trotz Impfbeginn für wichtiger denn je, Übertragungen unbedingt zu vermeiden.