B.1.1.7. verbreitet sich: Sechs Fragen und Antworten zur neuen Coronavirus-Variante
Eine neue Corona-Variante aus Großbritannien versetzt Europa in Angst. Sie könnte schon in Deutschland verbreitet sein.
Die Angst geht um unter Europas Regierungschefs, die Angst vor einer neuen Corona-Variante und vor einer noch schnelleren Verbreitung des Virus. Zwar ist noch nicht genug bekannt über die in Großbritannien festgestellte Virusvariante B.1.1.7. (auch VUI-202012/01 genannt), doch die Bundesregierung hält sie für so gefährlich, dass sie bereits einiges veranlasst hat, um sie von Deutschland fernzuhalten.
Ähnlich handelten zahlreiche andere Länder – mit schwerwiegenden Folgen für das Vereinigte Königreich.
Die jetzt aufgetauchte Variante macht neuen Untersuchungen zufolge das Coronavirus sehr wahrscheinlich leichter übertragbar. Zu diesem Schluss kommen Experten der englischen Gesundheitsbehörde Public Health England (PHS).
Sie verweisen dabei auf Erbgut-Untersuchungen der neuen Variante und auf Modellrechnungen zur Ausbreitung. Eine der rund 20 Mutationen von B.1.1.7 dürfte insbesondere dazu beitragen, dass das Virus leichter übertragen werden könne.
1. Was weiß man über die Gefährlichkeit der neuen Variante?
Je weniger Menschen sich infizieren, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass gefährliche Virusvarianten entstehen. Denn Viren mutieren ständig. Wann immer sie in den Zellen eines Infizierten vervielfältigt werden, passieren Fehler, Vertipper beim Abschreiben des Erbguts.
Die meisten dieser Virusvarianten sind infolge solcher Mutationen nicht überlebensfähig. Bei fast allen übrigen ändern die Vertipper nicht, wie das Virus Menschen infiziert oder krank macht. Doch manchmal kann es auch Erbgutveränderungen geben, die das Virus ansteckender, aggressiver oder harmloser machen.
Bei der in Großbritannien mindestens seit 20. September kursierenden Virusvariante B.1.1.7. vermutet das Expertenkomitee NERVTAG (New and Emerging Respiratory Virus Threats Advisory Group), dass die Mutationen zu einer „wesentlichen Steigerung der Übertragbarkeit im Vergleich zu anderen SARS-CoV-2-Varianten führen könnte“. Die Variante könnte 71 Prozent ansteckender sein, heißt es in dem NERVTAG-Papier.
Das sei allerdings nur eine grobe Abschätzung, die sich allein aus Genomsequenzierungsdaten ergibt, sagt Roman Wölfel vom Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr in München. „Auf der Basis der in Großbritannien vorliegenden Daten kann man dann Übertragungswahrscheinlichkeiten für verschiedene Virusvarianten ausrechnen.”
NERVTAG-Leiter Peter Horby hat aufgrund dessen inzwischen „großes Vertrauen“, dass das Virus tatsächlich ansteckender ist. Womöglich kann es Kinder besser infizieren als ältere Sars-CoV-2-Varianten, jedenfalls seien bei ihnen vergleichsweise viele B.1.1.7-Varianten gefunden worden. Aber auch das ist nur eine Vermutung.
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Ob B.1.1.7-Infizierte, Kinder oder Erwachsene, einen schwereren oder leichteren Krankheitsverlauf haben, lasse sich aufgrund „derzeit nicht ausreichender Daten“ aber nicht sagen. Ebenso offen sei, ob die Veränderungen des Virus dazu führen, dass die derzeitigen Impfstoffe nicht mehr davor schützen. Impfstoffexperten halten das jedoch für unwahrscheinlich.
Viele Fragen sind offen und noch fehlen entscheidende Experimente und epidemiologische Untersuchungen, ob B.1.1.7 wirklich infektiöser oder anderweitig gefährlicher als übrige Sars-CoV-2-Varianten ist. Möglich ist auch, dass die Variante zufällig in eine Reihe von Superspreading-Events geraten ist und sich deshalb so stark verbreitet hat. Klären sollen das nun Labor-Experimente, in denen die neue Variante im Vergleich zu anderen an menschlichen Zellen getestet wird.
2. Hat die Variante Auswirkungen auf die Wirkung der Impfstoffe?
Ob die Antikörper, die das Immunsystem im Verlauf einer Infektion (oder Impfung) gegen das S-Protein entwickelt, um die Viren zu bekämpfen, aufgrund der N501Y-Mutation nicht mehr funktionieren, ist unbekannt und muss erst noch untersucht werden. Laut Biontech-Gründer Ugur Sahin sei das nicht der Fall, der Impfstoff biete auch gegen die neue Variante höchstwahrscheinlich Schutz.
“Wir wissen im Moment nicht, ob unser Impfstoff auch vor dieser neuen Variante schützt, aber wissenschaftlich ist es sehr wahrscheinlich, dass die Immunreaktion durch dieses Vakzin auch mit dem neuen Virus umgehen kann”, sagte Sahin bei einer Pressekonferenz.
Der Impfstoff bestehe aus dem kompletten, 1270 Bausteine großen S-Protein unterscheide sich also nur in neun Bausteinen vom S-Protein der britischen Virusvariante. “Das heißt, dass 99 Prozent des Proteins noch gleich sind”. Das Immunsystem, also Antikörper und T-Zellen, greifen das S-Protein von vielen verschiedenen Seiten an, nicht nur dort, wo es sich jetzt verändert hat.
3. Woher kommt die britische Variante und ist sie mit der südafrikanischen verwandt?
Der Ursprung der britischen Virusvariante ist unklar. Das Covid-19-Genom- Konsortium vermutet allerdings, dass die Variante sich in Patienten mit geschwächtem oder defektem Immunsystem entwickelt haben könnte, die oft lange brauchen, um Covid-19 zu überwinden.
Die Viren haben also viel Zeit, sich ungestört vom Immunsystem zu vermehren und zu verändern. So entstehe womöglich die „ungewöhnlich hohe Zahl“ von Mutationen, etwa im Gen für das Spike-Protein (siehe Grafik). Allerdings betonen die Forscher ebenfalls, dass es sich dabei um eine reine Hypothese handele.
Auch der Ursprung der in Südafrika kursierenden Variante ist unbekannt. Mit der britischen hat sie allerdings nichts zu tun. Ob die südafrikanische Variante zu stärkeren Krankheitssymptomen bei Jüngeren führt, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt Spekulation. Es kann schlicht daran liegen, dass die Demographie in Südafrika eine völlig andere ist, also allein schon aufgrund der Altersverteilung im Land mehr Junge im Verhältnis zu Älteren erkranken als etwa in Deutschland.
4. Kann es sein, dass sich die Variante bereits in Deutschland verbreitet?
Mit Großbritannien unterhält Deutschland regen Waren- und Personenverkehr, so dass eine in Großbritannien seit September kursierende Virusvariante bestimmt auch den Weg nach Deutschland gefunden hat. In Dänemark, den Niederlanden, Australien und womöglich Belgien ist sie bereits entdeckt worden. Am Institut für Virologie der Charité in Berlin, wo derartige Varianten gemeldet werden, ging bisher allerdings kein Hinweis ein.
Das kann aber daran liegen, dass in Deutschland wesentlich weniger Virusgenome sequenziert werden. Der Leiter Christian Drosten hält es für wahrscheinlich, dass die Variante bereits – unerkannt – hier ist. „Aber ob nur ganz vereinzelt oder als substanzieller Bruchteil, ist nicht klar”, sagt Richard Neher vom Biozentrum der Universität Basel.
Jörg Timm von der Uniklinik Düsseldorf hält die Bemühungen Deutschlands bei der Virussequenzierung für „nicht ausreichend“. Es fehle an finanziellen Mitteln. Dabei könnten mit mehr Sequenzierung neue Varianten früh entdeckt und wertvolle Informationen über Infektionsketten und -cluster gewonnen werden.
5. Wie reagiert Deutschland?
Nach einem ersten kurzen Abwarten hat die Bundesregierung am Sonntagabend verfügt, dass keine Maschinen aus Großbritannien mehr auf deutschen Flughäfen landen dürfen. Einige Lufthansa- Jets nahmen auf dem Rückflug aus London und anderen britischen Airports keine Passagiere mehr mit.
Der Flugstopp gilt zunächst bis 31. Dezember. Zug- und Fährreisende sind schon durch die Einreiseverfügungen Frankreichs, Belgiens und der Niederlande daran gehindert, auf den Kontinent zu kommen. Für das Problem der Rückkehr deutscher Staatsangehöriger will man noch Lösungen suchen.
Was die Zeit nach dem Jahreswechsel betrifft, will man sich nun mit den EU-Partnern verständigen, wie Außenminister Heiko Maas (SPD) sagte. Es solle verhindert werden, dass ein Einreisestopp über andere Länder umgangen werden könne. Doch will man in Deutschland wie der EU insgesamt abwarten, bis es konkretere Erfahrungen mit der Virus-Mutation gibt.
6. Was bedeutet die Isolation für Großbritannien?
Am Montagmorgen legte der britische Verkehrsminister Grant Shapps demonstrativ Gelassenheit an den Tag. Die Unterbrechung der Warenlieferungen vom Kontinent stelle zumindest kurzfristig mit Blick auf Lebensmittel und Arzneien kein „besonderes Problem“ dar, beteuerte er.
Das überzeugte die Bürger in Großbritannien allerdings nicht. Nach Medienberichten bildeten sich bereits am frühen Montagmorgen lange Schlangen vor Supermärkten. Offenbar treibt viele Briten die Sorge um, dass demnächst Lebensmittel wie Salat oder Brokkoli, die vom Kontinent importiert werden, knapp werden könnten.
Shapps beklagte sich darüber, dass London von der Entscheidung der französischen Regierung überrascht worden sei, den gesamten Verkehr mit Großbritannien für 48 Stunden zu stoppen – also auch den Güterverkehr. In der Folge wurden der Euro-Tunnel und der britische Hafen Dover vorübergehend geschlossen.
Vor dem Hafen von Dover mussten Lkw-Fahrer am Montag ihre Lastwagen am Rande der Autobahn M20 abstellen, weil es nicht weiterging. Ironie des Schicksals: Schon seit Monaten probt die britische Regierung vor dem nahenden Ausscheiden aus dem EU-Binnenmarkt für den Ernstfall und veranstaltet auf der Autobahn M20 Tests, mit denen die Folgen der Einführung von Zollkontrollen am Ärmelkanal simuliert werden.