Beginn einer neuen Pandemie: Die Gefahr der Virusmutante wird sträflich unterschätzt
Eine Ausbreitung der ansteckenderen Virusvariante muss unbedingt verhindert werden. Sonst könnten sich die Fallzahlen wöchentlich verdoppeln. Ein Gastbeitrag.
Mindestens seit Mitte September kursiert im Süden Englands eine neue Variante des Coronavirus. Inzwischen hat sich „B.1.1.7.“ über die gesamte britische Insel verbreitet und ursprünglichere Virusvarianten verdrängt. Die Chief Medical Officers Englands, Schottlands, Irlands und Wales’ warnten in einer gemeinsamen Stellungnahme, das britische Gesundheitssystem werde in 21 Tagen kollabieren, sollten keine Gegenmaßnahmen eingeleitet werden.
Tatsächlich hat die Regierung Boris Johnsons inzwischen einen harten Lockdown verhängt, der vorerst bis Mitte Februar gelten soll.
In Dänemark machte die Mutante in der 52. Kalenderwoche bereits mehr als zwei Prozent der sequenzierten Stichproben aus. In den vier Vorwochen hatte sich diese Zahl jeweils verdoppelt: von rund 0,25 Prozent auf 0,5, 1,0 und 2,0 Prozent. Das mutierte Virus breitet sich rasant aus – trotz der Lockdown-Maßnahmen, welche die dänischen Fallzahlen im Dezember insgesamt stark abgesenkt haben.
Die wahrscheinlichste Erklärung dieser statistischen Daten besteht darin, dass das mutierte Virus viel ansteckender ist, aktuellen Schätzungen zufolge um etwa 50 Prozent.
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Kritischer Denkfehler in der Gefahreneinschätzung
Hätte der Befund gelautet, das mutierte Virus sei um 50 Prozent tödlicher und würde 50 Prozent mehr Langzeitschäden verursachen, wäre der Aufschrei vermutlich groß gewesen. Die Nachricht, dass das Virus um 50 Prozent ansteckender, zugleich aber wohl nicht aggressiver geworden ist, klingt weniger bedrohlich.
Das gilt jedoch nur aus der Sicht der einzelnen infizierten Person. Es auf die Gesamtbevölkerung zu übertragen, ist ein Denkfehler. Denn eine um 50 Prozent erhöhte Infektiosität der Virusmutante bedeutet, dass sie im selben Zeitintervall zu viel mehr Todesfällen und Hospitalisierungen führen kann als eine erhöhte Todesrate, zumal sich die erhöhte Infektiosität exponentiell auswirkt, was für eine erhöhte Todesrate nicht gilt.
Ein um 50 Prozent tödlicheres Virus führt zu 50 Prozent mehr Todesfällen; eine um 50 Prozent gesteigerte Infektiosität dagegen macht aus einer rückläufigen oder stabilen Epidemie leicht eine exponentiell anwachsende Infektionswelle, was die Hospitalisierungen und Todesfälle um ein Vielfaches erhöht.
Die Fallzahlen könnten sich wöchentlich verdoppeln
In Deutschland waren Lockdown-Maßnahmen mittleren Grades notwendig, um die Reproduktionszahl R auf den Wert von 1 zu senken und die Ausbreitung des Virus zumindest zu stabilisieren. Das mutierte Virus jedoch weist bei denselben Maßnahmen einen R-Wert auf, der weit über 1 liegt und damit exponentielles Wachstum bewirkt.
Die Fallzahlen könnten sich damit wöchentlich verdoppeln, was bis Ende April Dutzende Millionen Infektionsfälle erwarten ließe. Dieses Szenario würde die Impfstrategie sabotieren und den Erfolg der Eindämmungsmaßnahmen zunichte machen, den wir uns 2020 teuer erkauft haben. Anders gesagt: Das mutierte Virus ist – mit einiger Wahrscheinlichkeit – ein Game-Changer. Selbst wenn daran erhebliche Zweifel bestünden, müsste das entsprechende Szenario ernst genommen und intensiv diskutiert werden. Alles andere wäre risikopolitisch fahrlässig.
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Die Ausbreitung der neuen Virusvariante führt zu einer veränderten Gefahrenlage. Die Kurvenverläufe der ersten der beiden Grafiken (unten) zeigen, wie sich die täglichen Fallzahlen des ursprünglichen Virus bei einem R-Wert von 0,9 (rot) und 0,8 (blau) weiterentwickeln würden. Diese R-Werte erfordern Lockdown-Maßnahmen mittleren Grades. Im ersteren Fall ergäbe sich eine Halbierung etwa alle vier Wochen, im letzteren eine Halbierung etwa alle zwei Wochen.
Braucht es härtere Lockdown-Maßnahmen?
Wie verändern sich diese Kurven nun, wenn wir das bisherige Virus mit dem neuen, mutierten Virus kombinieren? In diese zweite Grafik gehen die (empirisch leider plausiblen) Annahmen ein, dass das neue Virus um 50 Prozent ansteckender ist und aktuell etwa ein Prozent aller Infektionen ausmacht.
Die B.1.1.7-Mutante wurde in Deutschland im November erstmals erfasst, dürfte wiederholt eingeschleppt worden sein und konnte sich seither sehr wahrscheinlich verbreiten. Sollte sich das mit der blauen Kurve skizzierte Szenario bewahrheiten, bliebe hinreichend Zeit, die Bevölkerung – insbesondere die vulnerablen Gruppen – durchzuimpfen.
Sie erfordert aber Lockdown-Maßnahmen, die bisher einen R-Wert von 0,8 bewirkt haben. Mit einem der roten Kurve entsprechenden Szenario dagegen wäre unser Gesundheitssystem völlig überfordert. Es resultiert bereits bei Maßnahmen, die bisher einen R-Wert von 0,9 zur Folge hatten. Der Spielraum ist also gering. Uns erwarten die härtesten Monate der Pandemie.
Man mag hier zu bedenken geben, dass ansteckendere Viren oft weniger tödlich seien und seltener zu schweren Krankheitsverläufen führten. Das trifft zu, nimmt der roten Kurve ihren Schrecken aber nicht. Denn selbst wenn das mutierte Virus bedeutend weniger Hospitalisierungen verursachen würde, wäre das Gesundheitssystem mit dem Szenario überfordert.
Zudem deuten bisher keine Daten darauf hin, dass die Hospitalisierungsrate abgenommen hätte. Im Gegenteil: Die vorliegenden Daten schließen die Hypothese noch nicht definitiv aus, dass die neue Virusvariante bei jüngeren Menschen häufiger zu schweren Krankheitsverläufen führt als die herkömmlichen Viren.
Mit der neuen Virusvariante beginnt eine neue Pandemie
Das bedeutet: Mit der ansteckenderen Corona-Mutante beginnt eine neue Pandemie. Was nun zu tun ist, haben die pandemiestrategisch erfolgreichen Staaten – etwa Taiwan, Südkorea, Japan, Australien oder Neuseeland – vorgemacht: Bei noch geringen Fallzahlen muss entschlossen eingeschritten, nachverfolgt und quarantiniert werden.
Nur so lassen sich die sprühenden Funken löschen, bevor sie zum Flächenbrand werden. Das ist die einzige Strategie, die bisher funktioniert hat. In den erfolgreichen Staaten hat sie sowohl die gesundheitlichen als auch die sozioökonomischen Schäden minimiert.
Wir müssen folglich alles daran setzen, das neue Virus (durch genetische Sequenzierung) aufzuspüren und seine Inzidenz minimal zu halten. Wo immer die Mutante lokal auftritt, muss sie konsequent eingedämmt werden, solange die geringen Fallzahlen dies noch zulassen.
Die Nachverfolgung und Quarantäne ist bei Neuinfektionen mit dem mutierten Virus unbedingt zu priorisieren.
Misslingt sie und bilden sich Hotspots, werden Reisesperren auch im Inland unausweichlich sein – sie sind das weit geringere Übel. Das gilt umso mehr, als die Impfung in Griffnähe ist. Denn breitet sich das Virus aus, könnten weitere Mutationen die Wirksamkeit der Impfung gefährden und unsere Pandemiestrategie auf der letzten Meile sabotieren. Zu allem Übel existiert in Südafrika auch bereits eine Corona-Mutante, deren Veränderungen hinsichtlich des Impfschutzes besorgniserregend sind.
Schleppende Durchimpfung: Die USA droht Europa zu überholen
Selbst ohne zusätzliche Mutationen drohen wir das Wettrennen gegen das Virus aber zu verlieren, weil die Durchimpfung viel zu langsam erfolgt. Das pandemiepolitische Versagen Europas ist multidimensional – die schlechte Vorbereitung der Impfung gehört dazu. Bereits im Frühjahr 2020 wurde deutlich, dass wir auf eine wirksame Impfung angewiesen sind, die hinreichend schnell verfügbar wird.
Andernfalls hätte der Versuch, das Virus mit einschneidenden Maßnahmen einzudämmen (statt die Kurve nur abzuflachen, das heißt, die Durchseuchung zu verlangsamen), strategisch keinen Sinn ergeben. Denn falls wirksame Impfungen nicht hinreichend schnell verfügbar werden, ist die Durchseuchung alternativlos.
Vor diesem Hintergrund konnte die strategische Bedeutung der Impfung bzw. einer schnellen Durchimpfung nicht überschätzt werden. Europa hat pandemiepolitisch bisher besser – zumindest weniger schlecht – agiert als die USA. Nun scheint es aber möglich, dass die USA schneller impfen werden.
Dieser eine, vielleicht wichtigste Faktor könnte zur Folge haben, dass die USA insgesamt bedeutend besser abschneiden werden als Europa. Falls die Corona-Mutante in Europa exponentiell zuschlägt, bevor die Impfdosen in hinreichender Zahl verabreicht sind, könnte die Differenz USA/Europa am Ende sehr hoch ausfallen.
[Die Autoren, der Ökonom, Ethiker und Risikoforscher Nikil Mukerji und der Philosoph, Risikoforscher und Sozialunternehmer Adriano Mannino von der Ludwig-Maximilians-Universität München, diskutieren in ihrem Buch „Covid-19: Was in der Krise zählt“ (Reclam) pandemiestrategische Fragen.]
Zu wenig und zu spät
Eine vernünftige Impfpolitik hätte ab Frühjahr 2020 dafür gesorgt, dass die Produktionskapazitäten für alle potenziell erfolgreichen Impfstofftypen massiv ausgebaut werden. Wir haben dies hierzulande schon im April empfohlen.
Im Vorhinein mag die Suche nach dem besten Impfstoffkandidaten der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen gleichen. Doch Christian Drosten irrt, wenn er behauptet, die europäische Impfpolitik lasse sich deswegen “nicht bewerten”. Denn die risikostrategische Maxime lautet hier: Wer die Nadel nicht findet, kaufe den Heuhaufen!
Das hätte sich auch dann sehr gelohnt, wenn die Mehrzahl der potenziellen Impfstoffe gescheitert und nur eine kleine Gruppe zur Produktion gelangt wäre. Entsprechende Investitionen sind als Versicherungsprämien zu sehen, die uns gegen mögliche Engpässe bei der Impfstoffproduktion absichern.
Sie sind ein Schnäppchen im Verhältnis zu den hunderttausenden Toten, den Millionen Langzeitgeschädigten und den Billionen an volkswirtschaftlichem Wert, die in Europa nun auf dem Spiel stehen, weil sich die Durchimpfung um Monate verzögert. Wir können uns – während einer Pandemie – das Risiko schlicht nicht leisten, nach der Zulassung von Impfstoffen auf die Produktionskapazitäten warten zu müssen.
Hätte man die Produktionskapazitäten zur Risikoabsicherung aggressiv und diversifiziert hochgefahren, wäre die gefährliche Problemlage vermieden worden, in der wir uns nun befinden. Mit genügend Impfstoff könnten wir bis Mitte Januar alle über 65-Jährigen impfen – Israel stellt gerade unter Beweis, dass ein Impftempo von einem Prozent der Bevölkerung pro Tag machbar ist.
Nikil Mukerji, Adriano Mannino