Ringen um EU-Chefposten: Die angezählte Frau von der Leyen
Es wird eng für Ursula von der Leyen. Ihre Charmoffensive in Brüssel verfängt nicht. Und plötzlich gibt es sogar eine Schmutzkampagne gegen sie. Eine Analyse.
Ursula von der Leyen (60) hat sich tapfer geschlagen, aber ihre Kritiker nicht überzeugen können. Für viele ist sie eine "Weiter-so"-Kandidatin. Zunächst schien es klar in diese Richtung zu gehen: Die CDU-Politikerin könnte zur ersten deutschen EU-Kommissionspräsidentin seit rund 50 Jahren gewählt werden. Nun deutet alles auf eine Zitterpartei hin. Für ihre Wahl braucht die CDU-Politikerin am kommenden Dienstag – wenn alle da sein sollten – 376 Stimmen.
Doch statt Stimmen zu sammeln, gehen ihr gerade Stimmen verloren. Und die SPD fährt eine kleine Schmutzkampagne gegen sie – was die Kanzlerin auf den Plan ruft. Ein Überblick über die aktuelle Gefechtslage - und den möglichen Plan B.
Auf wen ist von der Leyen angewiesen?
Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberale waren an dem von den EU-Staats- und Regierungschefs ausgehandelten Personalpaket beteiligt. Sie sollen in dem fein austarierten Lösungsmodell wichtige Ämter bekommen – und in ihren Fraktionen im Gegenzug für die Mehrheit im Parlament sorgen. Die drei Lager kommen auf 444 Stimmen. Als stärkste Kraft bei der Europawahl soll das Amt des Kommissionschefs an die konservative Parteienfamilie gehen, an die Europäische Volkspartei (EVP/182 Abgeordnete) in Person von Ursula von der Leyen. Da die Grünen und Linken bereits ihr Nein festgelegt haben, darf es hier also nicht allzu viele Abweichler geben. Doch das Gegenteil deutet sich an für die deutsche Verteidigungsministerin.
Zumindest ist eine Verlegung der Abstimmung vom Tisch. Wie die Parlamentsverwaltung am Donnerstag mitteilt, findet die Abstimmung am Dienstag um 18 Uhr statt. Ein Showdown. Der Grünen-Europapolitiker Sven Giegold wirft von der Leyen mangelnden Ehrgeizig beim Klimaschutz vor – auch wenn sie den Emissionshandel auf den Verkehr ausweiten will. Die nächste EU-Kommission müsse härter, nicht weicher gegen den Bruch europäischer Werte vorgehen. meint er mit Blick auf Einschränkungen der Justiz in Polen oder Ungarn. "Auch gegen Steuerdumping will von der Leyen nicht mit EU-Mindeststeuersätzen für Großunternehmen vorgehen.“"
Wer ist das Zünglein an der Waage?
Die Liberalen (108 Sitze) und vor allem die Sozialdemokraten (154). Nach den Anhörungen am Mittwoch sind die Zweifel bei vielen Abgeordneten größer statt kleiner geworden, von der Leyen blieb in vielem vage, konnte wenig neues ankündigen. Ein führendes Mitglied der Sozialdemokraten in Europa schätzt die Mehrheitsverhältnisse in seiner Fraktion nach der Anhörung so ein: 85 bis 90 Stimmen für von der Leyen und 65 bis 60 gegen sie, darunter die 16 SPD-Abgeordneten im Europaparlament. Das bedeutet, dass von der Leyens Stimmenbudget bei den drei Lagern schon auf 380 bis 385 sinkt – auch bei den Liberalen könnte es Abweichler geben.
Vizeparlamentspräsidentin Katarina Barley (SPD) fordert von der Kandidatin eine stärkere Abgrenzung von Rechtspopulisten wie Ungarns Präsident Viktor Orban. Der hatte den niederländischen Sozialdemokraten Frans Timmermans, einen Spitzenkandidaten bei der Europawahl, als Kommissionschef verhindert und stattdessen von der Leyen unterstützt. „Da war ein echter Schwachpunkt“, sagt Barley. Die beiden stärkeren Gruppen im Lager der Sozialdemokraten, die aus Italien und Spanien, könnten dagegen eher zustimmen. Denn im Rahmen des ausgehandelten Pakets wurde der italienische Sozialdemokrat David Sassoli bereits zum neuen Präsidenten des Europaparlaments gewählt; der spanische Sozialist Josep Borrell soll neuer EU-Außenbeauftragte werden.
Was sorgt für Ärger?
Der Chef der deutschen SPD–Abgeordneten, Jens Geier, hat in der Fraktion der europäischen Sozialdemokraten (SPE) ein zweiseitiges, englischsprachiges Papier verteilen lassen, in dem aktuelle und frühere Vorwürfe gegen von der Leyen aufgelistet sind. Dort wird mit Begriffen wie "Affäre", "Skandal", und "Plagiat" hantiert. Überschrieben ist der Text mit den Worten: "Warum Ursula von der Leyen eine unzulängliche und ungeeignete Kandidatin ist".
Aufgeführt wird auch die Berater-Affäre bei der Modernisierung der Bundeswehr und die ausufernden Kosten bei der Sanierung des Marineschulschiffes Gorch Fock. Zudem thematisieren die Autoren den nach einer langen Prüfung ausgeräumten Vorwurf, wonach sie wegen Plagiaten in ihrer Dissertation zu Unrecht einen Doktortitel führt. Frei nach dem Motto: Hauptsache, es bleibt etwas hängen.
Aus der SPD in Brüssel wird dagegen betont, SPE-Abgeordnete aus anderen Staaten hätten gefragt, wer diese von der Leyen sei und man habe eine kleine Sammlung zusammengestellt. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) rief von Berlin aus zur Mäßigung auf. Sie sei sich mit der SPD-Führung einig, dass es einen vernünftigen Umgang mit der CDU-Politikerin geben müsse, auch wenn man nicht an einem Strang ziehe. "Manches, was da gestern in Brüssel stattgefunden hat, würde ich jetzt nicht in diese Kategorie hineinstecken." Sie arbeitet dafür, dass von der Leyen gewählt wird. "Dass wir diese Situation in der Koalition haben, ist natürlich nicht einfach“" betont Merkel. So könnte auch das Bündnis von CDU/CSU und SPD in Berlin nachhaltigen Schaden nehmen.
Wer könnte von der Leyen retten?
Ausgerechnet rechte und nationalkonservative Abgeordnete im Europaparlament, aus Polen und Ungarn. Der Block der europakritischen EKR-Fraktion umfasst 62 Abgeordnete. Zudem wird über Stimmen von der rechten Regierungspartei Lega aus Italien spekuliert, die in einer Fraktion mit der AfD sitzt. "Nicht schön", kommentiert ein Europapolitiker diese Aussichten – denn so ein Start wäre mehr als ein holpriger. Man könnte sagen, Hauptsache gewählt. Aber werden die tiefen Risse zu kitten sein? Doch gerade das linke Lager hat dazu beigetragen, mit dem Bemühen diskreditierender Worte wie "Geschacher" und "Hinterzimmer" das Ansehen der europäischen Demokratie nicht zu fördern.
Von der Leyen ist eine liberale, überzeugte Europäerin, die als ein Punkt auch eine EU-Armee anstrebt und als durchsetzungsstark gilt. Seit 14 Jahren hat sie als Bundesministerin gedient, mit mehr Licht als Schatten. Der Kardinalsfehler im aktuellen Amt war es aber, der Bundeswehr ein generelles Haltungsproblem und "falsch verstandenen Korpsgeist" zu unterstellen – damit war sie bei der Truppe unten durch.
Wo hat das Parlament versagt?
Es war nicht in der Lage, einen mehrheitsfähigen Kandidaten vorzuschlagen – und es ist bei aller Kritik eine Leistung, wenn 28 demokratisch gewählte Staats- und Regierungschefs es schaffen, sich in schwierigen Verhandlungen auf ein großes Paket zu einigen. So sollte eigentlich das Amt der Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) erst später verhandelt werden. Da aber Deutschland bei der Kommissionspitze zum Zuge kommen soll, musste eine 1:1-Lösung mit Frankreich her – und die bisherige IWF-Chefin und designierte EZB-Präsidentin Christine Lagarde genießt international Vertrauen, auch wenn man gerade in Deutschland eine strikte Abkehr von der lockeren Geldpolitik Mario Draghis sich wünschen würde.
Der zuvor hoch gehandelte Bundesbank-Präsident Jens Weidmann geht erstmal leer aus – viele halten den EZB-Posten mit Blick auf mögliche neue Verwerfungen mit Milliardenrisiken für die Steuerzahler für wichtiger.
Was ist der Plan B?
Scheitert von der Leyen, müsste der Europäische Rat (die Staats- und Regierungschefs) nach dem EU-Vertrag "innerhalb eines Monats (...) einen neuen Kandidaten" vorschlagen. Da bereits mit Sassoli als Parlamentspräsident erste Elemente des Pakets umgesetzt worden sind, ist es schwer, bei einer Ablehnung von der Leyens eine neue Lösung zu finden. Denn der EVP stünde eigentlich weiter der Posten des Kommissionspräsidenten zu, da der belgische Premier, der Liberale Charles Michel, neuer EU-Ratspräsident werden soll.
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Das macht den von dem Grünen-Europapolitiker Sven Giegold jetzt wieder ins Spiel gebrachten Vorschlag, die angesehene liberale EU-Kommissarin Margrethe Vestager aus Dänemark als Kompromisslösung zur Kommissionschefin zu wählen, mit dem bisherigen Tableau unrealistisch. "Es ist kein Beinbruch, wenn die Kommissionsspitze erst im September besetzt wird.
Eine Kommissionschefin mit wackliger Mehrheit wäre das größere Risiko für Europa", meint er. Wenn es aber bei der bisherigen Verteilung der Posten bliebe und nur jemand Kommissionschef werden soll, der bei der Europawahl auch auf dem Wahlzettel stand, käme nur ein EVP-Kandidat in Frage. Und dann bliebe nur ein alter Bekannter: Manfred Weber von der CSU. So richtig überzeugende Alternativen gibt es bisher nicht. So sagt denn auch im Beisein von Merkel am Donnerstag die neue dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen in Berlin: "Als Sozialdemokratin bin ich für die Wahl von von der Leyen als neue Kommissionspräsidentin."