Kritik an Reaktion auf Belarus-Proteste: „Deutschland und die EU schauen zu“
In Belarus gingen Polizisten gewaltsam gegen Demonstranten vor. Die Bundesregierung bleibt still. Die Opposition wirft ihr Untätigkeit vor.
Wenn der kanadische Außenminister über eines der bedeutendsten weltpolitischen Ereignisse dieser Tage sprechen will, dann ruft er nicht in Brüssel, Berlin oder Paris an. Kanadas Top-Diplomat Francois-Philippe Champagne wandte sich am Wochenende an seinen Amtskollegen in Litauen. Er dankte dem Außenminister Linas Linkevicius für die Führungsrolle, die das Land übernommen habe, um Belarus in dieser schweren Zeit zu helfen.
Die Ereignisse in Belarus seit dem Wahltag haben selbst langjährige Belarus-Kenner überrascht. Mit einer so starken landesweiten Protestbewegung gegen den bisherigen Staatschef Alexander Lukaschenko hatte praktisch niemand gerechnet.
Doch während sich Diplomaten anderer europäischer Länder noch um ein Bild der Lage bemühten, ging Litauens Regierung deutlich weiter. Als in Minsk die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja am Tag nach der Wahl über mehrere Stunden verschwand und nicht erreicht werden konnte, war es Litauens Außenminister Linkevicius, der in einem Tweet Alarm schlug und seine Sorge um ihre Sicherheit zum Ausdruck brachte.
Mittlerweile ist Tichanowskaja selbst in Litauen, im Wahlkampf hatte sie zur Sicherheit bereits ihre Kinder dorthin geschickt.
Litauen wirbt für Entschlossenheit
Der baltische Staat, der aus historischen Gründen enge Beziehungen zu dem Nachbarland hat, warb für ein entschlossenes Vorgehen der EU, mahnte ein Ende der Repressionen in Belarus an und öffnete seine Grenzen, die eigentlich wegen der Coronakrise geschlossen sind, für die Menschen in Belarus. Litauen sei bereit, aus humanitären Gründen diejenigen aufzunehmen, die unter den brutalen Repressionen litten, erklärte Linkevicius.
Als bekannt wurde, dass zahlreiche festgenommene Demonstranten von belarussischen Sicherheitskräften schwer und systematisch gefoltert wurden, sagte der litauische Außenminister, es reiche nicht mehr, „ernste Sorge“ zum Ausdruck zu bringen – eine typische Formulierung der europäischen Diplomatie. Jetzt müssten Konsequenzen folgen. Zugleich stellte das Land finanzielle Hilfen für die Behandlung der Verletzten und Gefolterten zur Verfügung.
Lukaschenko soll Gewalt beenden
Die Präsidenten Polens, Litauens, Lettlands und Estlands riefen Lukaschenko am vergangenen Donnerstag in einer gemeinsamen Erklärung auf, die Gewalt zu beenden, die inhaftierten Demonstranten freizulassen und einen Dialogprozess in Gang zu setzen. In Anlehnung an Erfahrungen in ihren eigenen Ländern schlugen sie einen „runden Tisch der nationalen Versöhnung“ vor, an dem Vertreter von Regierung und Zivilgesellschaft miteinander ins Gespräch kommen sollten.
„Wir stehen bereit, unsere Vermittlungsbemühungen anzubieten, um eine friedliche Lösung in Belarus zu erreichen und die Unabhängigkeit und Souveränität Ihres Landes zu stärken“, schrieben die vier Präsidenten an Lukaschenko.
EU beschließt neue Sanktionen
Vergleichbare Initiativen anderer EU-Länder oder der gesamten Europäischen Union gibt es bisher nicht. Die Außenminister der 27 Mitgliedsstaaten hatten am Freitag einstimmig neue Sanktionen beschlossen, die sich gezielt gegen diejenigen richten sollen, die für Wahlfälschungen und die Gewalt gegen Demonstranten verantwortlich sind. Allerdings ist noch unklar, wer auf der Sanktionsliste steht – und ob sich die Strafmaßnahmen auch gegen Lukaschenko selbst richten werden. Die belarussische Oppositionsvertreterin Maria Kolesnikowa sieht die Pläne der EU skeptisch. Sanktionen gegen Regierungsvertreter könnten die Chancen auf einen Dialog in Belarus verschlechtern, warnte sie.
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Brüssel hat kein klares Konzept
Doch über die Sanktionen hinaus ist bisher kein Konzept erkennbar, mit dem die EU auf die dramatischen Ereignisse in Belarus antworten will. Lukaschenko hat in den vergangenen Jahren immer wieder die EU und Russland gegeneinander ausgespielt. Kam aus Brüssel zu viel Gegenwind wegen der Missachtung der Menschenrechte, näherte er sich demonstrativ Moskau an. Wenn jedoch der Kreml zu deutliche Ambitionen erkennen ließ, die Union beider Staaten zu vertiefen, und damit die Eigenständigkeit von Belarus in Gefahr schien, blinkte Lukaschenko wieder Richtung Westen.
Diese Strategie hatte aus seiner Perspektive durchaus Erfolg: Im Jahr 2016 hob die EU die Sanktionen auf, die 2010 nach einer gefälschten Wahl und der Niederschlagung der Proteste verhängt worden waren.
Die deutsche Diplomatie ist überraschend still
Kanzlerin Angela Merkel hatte sich vor einigen Tagen „erschüttert“ gezeigt über die Misshandlungen von inhaftierten Demonstranten und die Gewalt verurteilt. Die Regierung stehe an der Seite aller Menschen, die friedlich ihren Willen verkünden, erklärte Merkels Sprecher. Doch die Bundesregierung will derzeit ihre Reaktion sorgfältig abwägen - im Mittelpunkt steht dabei die Sorge, man könne Belarus endgültig in die Arme Russlands treiben. Während Kanadas Außenminister selbst das Gespräch mit Tichanowskaja suchte, verzichtet die deutsche Diplomatie bisher auf derartige Kontakte zur Protestbewegung in Belarus.
Opposition kritisiert Untätigkeit
Die Opposition im Bundestag wirft der Regierung mit Blick auf die dramatische Lage in Belarus Untätigkeit vor. „Die Reaktion der Bundesregierung war enttäuschend“, sagte die FDP-Abgeordnete Renata Alt dem Tagesspiegel. „Sowohl das Auswärtige Amt als auch die Kanzlerin haben zu spät und schwach reagiert.“
Spätestens mit der Verhaftung der Kandidaten der Opposition im Mai und im Juni sei absehbar gewesen, dass sich die Lage in Belarus zuspitze. „Vor der Haustür der EU finden grobe Menschenrechtsverletzungen statt, und Deutschland und die EU schauen zu“, kritisierte Alt. Wichtig sei es jetzt, die friedlichen Proteste zu unterstützen und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) als Vermittlerin ins Spiel zu bringen.
Die FDP-Politikerin forderte Deutschland und die EU zudem auf, das Gespräch mit Russland zu suchen. Ziele seien ein Ende der Gewalt in Belarus sowie freie und faire Wahlen. „Man muss um jeden Preis ein Szenario wie in der Ukraine oder wie in Prag 1968 vermeiden“, sagte die FDP-Politikerin mit Blick auf Russlands Angebot, im Ernstfall in Belarus einzugreifen.
Die Grünen vermissen Klarheit
„Die Position der Bundesregierung lässt an Klarheit vermissen“, sagt auch der Grünen-Bundestagsabgeordnete Manuel Sarrazin. Es reiche nicht, die Wahlen als nicht fair und nicht frei zu bezeichnen. „Die Bundesregierung sollte öffentlich erklären, dass Lukaschenko für sie nicht der gewählte Präsident ist.“ Der Osteuropaexperte der Grünen kritisierte, dass Berlin und Brüssel immer noch nicht aufgehört hätten, auf den „abgehalfterten Diktator“ Lukaschenko zu setzen.
Dass damit die Souveränität von Belarus gegenüber Russland gewahrt werden könne, sei ein „naiver Irrglaube“, betonte Sarrazin. Bereits jetzt gebe es keinen anderen Staatschef im postsowjetischen Raum, der so abhängig von Russland sei wie Lukaschenko.
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