Massendemonstrationen in Belarus: Zehntausende fordern Rücktritt Lukaschenkos
100.000 Menschen demonstrieren in der Hauptstadt Minsk. Auch an anderen Orten gibt es Proteste. Eine Gegenveranstaltung des Staatsapparats ist deutlich kleiner.
Eine Woche nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl in Belarus hat die Opposition die bisher größte Protestkundgebung gegen Staatschef Alexander Lukaschenko auf die Beine gestellt. Zehntausende Demonstranten zogen am Sonntag in einem sogenannten Marsch der Freiheit durch die Straßen von Minsk und forderten Lukaschenkos Rücktritt.
Bei ihrem Marsch über den Unabhängigkeitsboulevard trugen die Oppositionsanhänger als Zeichen ihrer friedlichen Absichten weiße Kleidung, Blumen und Ballons. Mit "Geh!"-Rufen forderten sie Lukaschenkos Abgang.
Die Demonstranten trugen dabei eine 100 Meter lange rotweiße Fahne durch die Stadt. Die von Lukaschenko abgeschaffte Flagge der Nachwendezeit gilt als Symbol der Opposition in dem osteuropäischen Land. Zu den Unterstützern des Marsches gehörten auch bekannte Journalisten des Staatsfernsehens, Forscher, Geschäftsleute und der ehemalige Kulturminister Pawel Latuschko.
Lukaschenko lässt Gegendemo veranstalten
Allein in Minsk wurde ihre Zahl auf etwa 100.000 geschätzt. In Videos in oppositionsnahen Kanälen des Nachrichtendienstes Telegram war eine riesige Menschenmenge zu sehen. Aktionen gab es in allen Städten des Landes. Es blieb zunächst überall friedlich.
Ungeachtet der Massenproteste hält Lukaschenko an seiner Macht fest. Am Sonntag fand erstmals eine Unterstützungskundgebung für den Präsidenten statt. Tausende Menschen versammelten sich am Sonntagmittag auf dem Unabhängigkeitsplatz in der Hauptstadt Minsk, wie auf Videos im Nachrichtenkanal zu sehen war.
Sie riefen „Für Lukaschenko“. Viele trugen T-Shirts, auf denen „Wir sind uns einig“ stand. Schätzungen gingen zunächst von 3000 Menschen auf dem Platz im Zentrum aus.
„Nicht zulassen, dass Land aufgegeben wird, selbst wenn ich tot bin“
Lukaschenko rief seine Anhänger auf, die Unabhängigkeit des Landes zu verteidigen. „Ich habe euch nicht hierher gerufen, um mich zu verteidigen. Vielmehr könnt ihr zum ersten Mal seit einem Vierteljahrhundert euer Land und dessen Unabhängigkeit verteidigen“, sagte er.
Und weiter: „Ich werde es nicht zulassen, dass unser Land aufgegeben wird, selbst wenn ich tot bin.“
Zu der Kundgebung hatte eine Organisation aufgerufen, die den Präsidenten seit 2007 zum Beispiel bei Wahlkämpfen unterstützt. Es sollten alle Kräfte gebündelt werden, die den Staatskurs unterstützen, hieß es in den Aufruf. In Medien hieß es, dass Staatsbedienstete zur Teilnahme gedrängt worden seien. Zuvor war auf Videos zu sehen, wie Buskolonnen in Richtung der Hauptstadt fuhren.
Seit der Präsidentenwahl gibt es landesweit Proteste empörter Bürger, die nicht an einen Wahlsieg Lukaschenkos glauben. Die Kundgebung soll nun ein anderes Bild vermitteln. Journalisten des Staatsfernsehens drohten dagegen mit einer Arbeitsniederlegung.
„Ich stehe hier wie vor Gott“
Der seit 26 Jahren mit harter Hand regierende Lukaschenko hatte sich bei seiner inzwischen sechsten Wahl mit gut 80 Prozent der Stimmen zum Sieger erklären lassen. Seine Gegner, die im ganzen Land demonstrieren, fragen seit Tagen, wo diese 80 Prozent seien und warum niemand für Lukaschenko auf die Straße gehe.
Bei Ergebnissen von mehr als 80 Prozent könne es keinen Wahlbetrug geben, sagte er der Staatsagentur Belta zufolge am Sonntag bei einer Kundgebung von Anhängern in Minsk. „Ich stehe hier wie vor Gott.“
Zugleich lehnte er Neuwahlen ab. „Litauen, Polen und die Ukraine befehlen uns, Neuwahlen abzuhalten“, sagte Lukaschenko. „Wenn wir uns von denen am Gängelband führen lassen, dann geraten wir ins Trudeln. Dann gehen wir als Nation zugrunde.“
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Die Opposition wiederum erwartet Zehntausende Menschen allein im Zentrum der Hauptstadt. Auch in anderen Städten sind den achten Tag in Folge neue Aktionen geplant.
Gegen Mittag sollte ein zweites Todesopfer zu Grabe getragen werden - in der Stadt Gomel. Die Mutter des 25-Jährigen hatte den Sicherheitskräften Willkür vorgeworfen und sie für den Tod ihres Sohnes verantwortlich gemacht. Der junge Mann, der eine Herzkrankheit gehabt habe, sei am Wahlsonntag auf dem Weg zu seiner Freundin festgenommen worden und in Polizeigewahrsam im Krankenhaus gestorben. Die Polizei bestätigte dies erst am Mittwoch und teilte mit, dass die Gerichtsmedizin die Todesursache klären müsse.
[Ein Portrait von Lukaschenko können Abonnenten hier als T+-Text lesen: Der Herrscher von Minsk – Wie sich Lukaschenko bisher an der Macht hält]
Der als „letzter Diktator Europas“ kritisierte Lukaschenko zeigt sich bisher weitgehend unbeeindruckt von den Protesten. Er lehnt einen Dialog mit der Opposition oder eine Vermittlung aus dem Ausland ab. Den Sieg bei der Wahl beansprucht die 37 Jahre Swetlana Tichanowskaja für sich. Ihre Unterstützer fordern einen Rücktritt Lukaschenkos, die Freilassung aller Gefangenen und Neuwahlen.
Der 65-jährige Lukaschenko hatte die Demonstranten als vom Ausland manipuliert und bezahlt sowie als Menschen mit krimineller Vergangenheit und als Arbeitslose bezeichnet. Danach gingen auch Arbeitskollektive in vielen Staatsbetrieben in den Streik. Lukaschenko spricht immer wieder auch von einer Gefahr aus dem Ausland, ohne Details zu nennen.
Lukaschenko hofft auf Hilfe von Putin
Am Samstagabend ordnete er die Verlegung von Fallschirmjägern nach Grodno im Westen des Landes an. In der Region sei die Lage gespannt, sagte er bei einer vom Staatsfernsehen übertragenen Sitzung des Generalstabs. Lukaschenko wies zudem das Verteidigungs- und das Innenministerium sowie den Geheimdienst KGB an, keine „ungesetzlichen Aktionen“ im Land zuzulassen. Konkret planten seine Gegner eine Menschenkette vom EU-Land Litauen durch Belarus in die Ukraine. Diese Solidaritätsaktion für die Proteste müsse verhindert werden.
„Ich habe keine anderen Ziele, als einen unabhängigen und stabilen Staat zu erhalten“, sagte Lukaschenko. Er hatte auch Kremlchef Wladimir Putin in einem Telefonat um Hilfe gebeten. Staatsmedien korrigierten am Samstagabend Aussagen Lukaschenkos, wonach Russland militärisch einschreiten könnte. In einer Mitteilung des Kreml zu dem Telefonat war keine Rede von irgendeiner Hilfe in der jetzigen Situation.
Putin sagte Alexander Lukaschenko am Sonntag militärische Hilfe zu. Auf Belarus werde Druck von außen ausgeübt, erklärte das Moskauer Präsidialamt nach einem erneuten Telefonat Putins mit Lukaschenko.Russland sei daher bereit, im Rahmen des mit dem Nachbarland bestehenden Militärabkommens zu helfen. Woher der Druck von außen komme, ließ Putin demnach offen.
Opposition glaubt nicht an Eingreifen Russlands
Der belarussische Analyst Artjom Schraibman hält eine russische Militärintervention zur Unterstützung Lukaschenkos für äußerst unwahrscheinlich. „Russland rettet keine stürzenden Regimes mit Streitkräften“, teilte er mit. Möglich sei, dass ein Präsident herausgeholt werde aus dem Land. „Aber ein Regime retten, das keine Basis an Unterstützern mehr hat - Nein.“ Schraibman meinte auch, Russland sei schon jetzt wegen des Ukraine-Konflikts mit Sanktionen belegt und habe kein Interesse an einer weiteren Eskalation auf internationaler Bühne.
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Ähnlich sieht das die belarussische Oppositionelle Maria Kalesnikava. „Ich glaube nicht, dass Putin eingreift, es wäre auch ein dummer Schritt“, sagte sie der „Bild am Sonntag“. „Die Unterstützung in Belarus ist groß, wir wollen in einem freien und europäischen Land leben.“ EU-Sanktionen gegen die Verantwortlichen für die Misshandlung von Demonstranten lehnt die Oppositionelle indes ab. Die Betreffenden müssten „nach belarussischem Recht“ bestraft werden, sagte die Oppositionelle der Zeitung. „Die Bestrafung muss hier stattfinden.“
Die EU hatte am Freitag wegen der Polizeigewalt in Belarus (Weißrussland) neue Sanktionen gegen Unterstützer Lukaschenkos auf den Weg gebracht. Es soll auch Strafmaßnahmen gegen Personen geben, die für eine Fälschung der Präsidentenwahl verantwortlich gemacht werden. (dpa)