Proteste in Belarus: Sind Lukaschenkos Tage im Amt gezählt?
In Belarus flauen die Proteste nicht ab. Lukaschenko macht Zugeständnisse und neue Drohungen. Die EU bringt Sanktionen auf den Weg.
Seit fast einer Woche kämpfen die Menschen in Belarus gegen das Ergebnis der Präsidentenwahl – und für den Abtritt von Autokrat Alexander Lukaschenko nach 26 Jahren. Noch sieht es nicht danach aus, aber vieles ist in Bewegung geraten.
Wie ist die Lage im Land?
Ergreifende Szenen spielen sich in der Nacht auf Freitag vor dem Gefängnis Okrestina in der Hauptstadt Minsk ab. Soeben Entlassene fallen weinend wartenden Angehörigen und Freunden in die Arme. Helfer reichen Decken und Nahrungsmittel. Die Bilder der Erlösung laufen über Telegram-Kanäle.
Kurz zuvor hatte das Regime überraschend eingelenkt und die Freilassung der Gefangenen verkündet. Unter der Auflage, sich nicht mehr an den Protesten zu beteiligen, wie Senatspräsidentin Natalja Kotschanowa erklärt. Innenminister Juri Karajew entschuldigte sich bei den Bürgern für die Festnahme vieler Unschuldiger. Bei Polizeieinsätzen gegen Massenproteste komme es auch zu versehentlichen Festnahmen, sagte er.
Fast 7000 Menschen hatte die Polizei in den vergangenen Tagen brutal von den Straßen geholt. Unzählige Videos belegen die massive Gewalt, mit denen die Sicherheitskräfte gegen die Menschen vorgingen: mehrere Polizisten, die mit Schlagstöcken auf einzelne am Boden liegende Menschen einschlagen und treten, Autofahrer, die in ihren Fahrzeugen attackiert, und Jugendliche, die brutal abgeführt werden. Viele Aktionen wirken willkürlich. Eine Mutter aus Gomel wirft den Behörden vor, ihr Sohn sei am Sonntag auf dem Weg zu seiner Freundin verhaftet worden. Er habe nicht an Protesten teilgenommen. Der 25-Jährige starb wenig später unter ungeklärten Umständen im Gewahrsam.
Viele der zunächst 2000 Freigelassenen schildern schwere Misshandlungen, zeigen Blutergüsse und Wunden. Eine junge Frau berichtet unter Tränen, wie mehrere Polizisten sie verprügelt haben, sie hätten ihre Hose ausgezogen und mit Vergewaltigung und Tod gedroht.
Andere sprechen von Folter mit Stromstößen oder glühenden Zigaretten. Mehrere Freigelassene kommen sofort ins Krankenhaus. Ein Korrespondent des russischen Mediums „Znak“, Nikita Telischenko, schildert ausführlich eigene Hafterlebnisse. Er war am Montag in Minsk verhaftet worden und kam Dienstagabend wieder frei. Im Polizeigebäude „lagen Leute als lebender Teppich auf dem Boden, und wir mussten direkt auf ihnen entlanglaufen“, schreibt er. „Rundherum lagen Menschen in Blutlachen.“
Lenkt Minsk jetzt ein?
Lukaschenko selbst soll angewiesen haben, sich um die Lage der Gefangenen zu kümmern. Der Präsident ordnete zudem eine Untersuchung an, um „allen Fällen von Inhaftierung auf den Grund zu gehen“, wie Senatspräsidentin Kotschanowa sagt. Lukaschenko reagiert insbesondere auf Proteste von Arbeitskollektiven in den Staatsbetrieben, die zum Funktionieren der Ex-Sowjetrepublik beitragen. Dort traten zuletzt immer mehr Arbeiter in den Ausstand. Darunter Metallwerke, Auto- sowie wichtige Traktorenfabriken.
In Sprechchören fordern die Arbeiter den Rücktritt des Präsidenten. Ein flächendeckender Streik in den Betrieben könnte nach Einschätzung von Beobachtern Lukaschenko zu Fall bringen.
Außerdem beteiligen sich zahlreiche Ärzte an den Aktionen. Im Internet kursieren Videos von Sicherheitskräften, die ihre Uniformen in den Müll werfen oder verbrennen und ihre Dienstmarken abgeben.
Weiterer Grund für die Deeskalation des Regimes dürfte die Sanktionsdrohung der Europäischen Union sein. Belarus sei zu „konstruktiven und objektiven“ Gesprächen mit dem Ausland über die Wahl und die Proteste bereit, verkündet Außenminister Wladimir Makei am Freitag.
Lukaschenko meldet sich ebenfalls zu Wort. Nachdem er zuletzt die Proteste als vom Ausland gesteuert kritisiert und die Demonstranten als Arbeitslose mit krimineller Vergangenheit beschimpft und mit dem Einsatz der Armee gedroht hatte, warnt er nun vor den Folgen von Streiks in den Staatsbetrieben. Im Zuge der Corona- Pandemie beginne die Weltwirtschaft sich wieder zu erholen, sagt er. „Alle kämpfen auf diesen Märkten. Wenn wir aufhören zu arbeiten, werden wir die Produktion nie wiederherstellen können.“ Dies sei jedoch „die einzige Chance, ein Unternehmen zu retten“.
Was unternimmt die EU?
Die EU hat neue Sanktionen gegen Unterstützer des Staatschefs Alexander Lukaschenko auf den Weg gebracht. Zudem soll es Strafmaßnahmen gegen Personen geben, die für eine Fälschung des Ergebnisses der Präsidentenwahl verantwortlich gemacht werden. Das erfuhr die Deutsche Presse-Agentur am Freitag nach Beratungen der EU-Außenminister von Diplomaten.
Europa hatte die Wahl schnell als „weder frei noch fair“ – Maßnahmen waren zunächst aber nur langsam in Gang gekommen. Erst am Donnerstag waren die belarussischen Botschafter zu Gesprächen in die Außenministerien in Berlin und Prag zitiert worden. Erst am Freitagnachmittag kamen die EU-Außenminister zusammen, um per Videoschalte über Maßnahmen zu beraten. „Wir brauchen zusätzliche Sanktionen gegen diejenigen, die in Belarus demokratische Werte missachtet oder gegen Menschenrechte verstoßen haben“, hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor dem Treffen gefordert.
Auch die Bundesregierung hatte sich zuvor für Sanktionen ausgesprochen, wie Regierungssprecher Steffen Seibert sagte. Im Namen von Bundeskanzlerin Angela Merkel verurteilte er erneut „den Einsatz von großer Gewalt gegen friedlich demonstrierende Menschen scharf“. Außenminister Heiko Maas erklärt: „Wir werden den Druck erhöhen müssen.“
Die EU kehrt nun zurück zu Sanktionen, die sie 2016 aufgehoben hatte, weil sie damals Fortschritte im Umgang mit den Menschenrechten in dem Land festgestellt hatte.
Unklar war im Vorfeld, ob der notwendige Konsens der EU-Minister gefunden wird. Denn Ungarns Regierungschef Viktor Orban pflegt gute Kontakte zu Lukaschenko. Noch im Juni hatte Orban bei einem Besuch in Minsk das Ende bestehender Strafmaßnahmen verlangt.
Am Donnerstag verkündet Außenminister Peter Szijjarto: Ungarn sei daran interessiert, dass in der EU Entscheidungen auf Grundlage eines Dialogs fallen, „die den künftigen Ausbau von Beziehungen zwischen der EU und Belarus nicht unmöglich machen“.
In EU-Kreisen war auch die Rede von schrittweisen Maßnahmen, wobei strenge Sanktionen ist in einem zweiten Schritt verhängt werden könnten, um durch den Druck Lukaschenko nicht weiter in die Arme Russlands zu treiben.[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Tschechien und Polen fordern derweil Beratungen der EU-Staats- und Regierungschefs zu Belarus. „Wir können nicht länger warten“, schreibt Tschechiens Ministerpräsident Andrej Babis auf Twitter. In Deutschland fordert die SPD eine gemeinsame Initiative der Bundesregierung mit Frankreich und Polen. Merkel will bei einem Treffen mit Präsident Emmanuel Macron am 20. August über die Situation in Belarus beraten.
Wie geht es weiter?
Die Freilassung der Gefangenen hat die Protestbewegung nicht gebremst. Im Gegenteil: Die bei der Wahl angeblich unterlegene Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja ruft ihre Landsleute am Freitag zu landesweiten friedlichen Demonstrationen auf. Bürgermeister sollten am Wochenende Proteste überall im Land organisieren, sagt sie in einer Videoansprache aus ihrem Exil in Litauen.
Anfang der Woche hatte sie ihre Anhänger aufgerufen, sich nicht an den regierungskritischen Protesten zu beteiligen. Dieses Video war offenbar kurz vor ihrer Ausreise und auf Druck der Sicherheitskräfte entstanden. Bislang galt die dezentrale Organisation der Proteste als Vorteil für die Aktivisten. Dennoch gibt es auch Stimmen, die sich Tichanowskaja gut als Symbol der Freiheit und an der Spitze einer Art Exilregierung vorstellen können.
Lukaschenko denkt indes kaum daran, aufzugeben: Die Wahlkommission erklärte ihn am Freitag zum Wahlsieger mit 80,1 Prozent.