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Ein russischer Polizist steht vor der Botschaft von Belarus in Moskau.
© AFP/Alexander Nemenov
Update

Proteste in Belarus: Lukaschenko bittet Putin um „umfassende Hilfe“

Die Massenproteste gegen Wahlbetrug und Willkür in Belarus halten an. Präsident Lukaschenko fürchtet einen Umsturz und wendet sich Putin zu.

Angesichts der Protestwelle in Belarus hat Staatschef Alexander Lukaschenko nach eigenen Angaben von Russlands Präsident Wladimir Putin umfassende Unterstützung zugesichert bekommen. Er habe in dem Telefonat mit Putin vereinbart, dass "auf unsere erste Bitte hin umfassende Hilfe geleistet wird, um die Sicherheit von Belarus zu gewährleisten", sagte Lukaschenko am Samstag laut der amtlichen Nachrichtenagentur Belta.

Lukaschenko verwies auf ein bestehendes Verteidigungsbündnis mit Moskau: "Was die militärische Dimension angeht, haben wir ein Abkommen mit der russischen Föderation im Rahmen der Union" zwischen Russland und Belarus. "Derartige Situationen fallen unter das Abkommen", fügte er hinzu.

Beide Seiten hätten sich zuversichtlich gezeigt, dass die Probleme bald gelöst würden, teilte der Kreml in Moskau danach mit. Diese Probleme sollten nicht von „destruktiven Kräften“ ausgenutzt werden, um die Zusammenarbeit beider Länder zu beinträchtigen, hieß es weiter. Belarus ist wirtschaftlich von Russland abhängig.

Zuvor hatte Lukaschenko Angebote aus dem Ausland zur Vermittlung im Streit um die mutmaßlich gefälschte Präsidentenwahl abgelehnt. „Wir haben eine Regierung, die gemäß der Verfassung gebildet wurde“, sagte er am Samstag bei einem Treffen mit Militärs in Minsk der Staatsagentur Belta zufolge. Er sagte dem Militär, er werde das Land „nicht hergeben“. Es habe ausreichend Ressourcen, um sich zu verteidigen und für Sicherheit im Staat zu garantieren, sagte der Regierungschef dem russischen Medium „Meduza" zufolge.

Lukaschenko macht Ausland für Proteste verantwortlich

Lukaschenko hatte am Samstagmorgen vor einem Umsturz gewarnt. „Wir lesen bereits die Anleitungen für eine farbige Revolution“, sagte der Präsident am Samstag in Minsk der Staatsagentur Belta zufolge. Es gebe bereits „Elemente äußerer Einmischung“.

„Wir sehen, was passiert. Wir dürfen uns nicht von den friedlichen Aktionen und Demonstrationen einlullen lassen“, sagte Lukaschenko. Mit „farbigen Revolutionen“ meinte er die Umstürze in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken wie der Ukraine.

Lukaschenko hatte bereits am Freitag das Ausland für die Proteste verantwortlich gemacht. Er zählte dabei die Niederlande, Polen, Russland und die Ukraine auf. Namentlich nannte er aber nur den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny, der mit seinem Team regelmäßig über die Ereignisse im Nachbarland berichtet.

Die Wahlkommission hatte Lukaschenko bei der Wahl am vergangenen Sonntag 80,1 Prozent der Stimmen zugesprochen. Viele Menschen in der Ex-Sowjetrepublik haben erhebliche Zweifel daran.

Tausende gedenken eines toten Demonstranten

Am Samstag versammelten sich in Minsk erneut Tausende Menschen, um gegen Gewalt und Willkür unter Lukaschenko zu demonstrieren. Eine große Menschenmenge befand sich in der Nähe der U-Bahnstation Puschkinskaja, wie ein AFP-Reporter berichtete. Die Menschen gedachten eines Demonstranten, der Anfang der Woche in der Nähe der Station bei der Niederschlagung der Proteste durch die Polizei zu Tode gekommen war.

Viele Menschen aus der Menge legten Blumen an der Stelle nieder, an der Alexander Taraikowskij am Montag starb. Einige der Teilnehmer riefen "Geht!", andere trugen Schilder mit der Aufschrift "Nein zur Gewalt" und "Keine Folter mehr". Es wurden auch Bilder von misshandelten Demonstranten hochgehalten.

Zuvor hatten zahlreiche Demonstranten darüber berichtet, wie sie während der Haft von der Polizei gefoltert und schwer misshandelt wurden. Der Tod von Taraikowskij sei durch einen Sprengsatz verursacht worden, hatten die Behörden erklärt. Dieser sei in der Hand des 34-jährigen Demonstranten explodiert. Videos, die den Moment zeigen, an dem Taraikowskij verletzt wurde, widerlegen diese Darstellung jedoch. Darauf sind mehrere Schüsse zu sehen, bevor der Demonstrant taumelnd zu Boden fällt.

In den vergangenen Tagen legten auch immer mehr Beschäftigte in Staatsbetrieben ihre Arbeit nieder. Lukaschenko warnte am Samstag erneut vor den wirtschaftlichen Folgen von Streiks. Lukaschenko wolle am kommenden Montag den staatlichen Lastwagenhersteller besuchen und dort mit Arbeitern sprechen, kündigte der 65-Jährige an.

Opposition hält EU-Sanktionen für verfrüht

Die Opposition in Belarus sieht die neuen Sanktionen der EU gegen Unterstützer des Staatschefs Alexander Lukaschenko skeptisch. Die Zeit sei noch nicht reif dafür, sagte Maria Kolesnikowa vom Wahlkampfstab der Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja der „Welt am Sonntag“. „Wirtschaftssanktionen würden sowieso vor allem die einfachen Menschen in Belarus treffen, das hat die Vergangenheit gezeigt.“ Auch Strafmaßnahmen gegen einzelne Personen hält die 38-Jährige im Moment für nicht sinnvoll. „Es ist jetzt noch viel zu früh für Sanktionen, glaube ich“, sagte Kolesnikowa.

Ihrer Ansicht nach werden Sanktionen gegen bestimmte Politiker und Regierungsvertreter die Chancen der EU, aber auch die der Opposition in Belarus auf einen Dialog mit den Behörden verschlechtern. „Wir suchen schon seit Tagen einen effektiven Dialog mit der Regierung, aber wir haben noch keine Antwort erhalten“, sagte sie.

Die EU-Außenminister hatten die Strafmaßnahmen am Freitag auf den Weg gebracht. Sie richten auch gegen Personen, denen eine Fälschung der Präsidentenwahl am vergangenen Sonntag vorgeworfen wird. „Die EU akzeptiert die Wahlergebnisse nicht“, teilte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Abend mit.

Opposition in Belarus: Maria Kolesnikowa, Swetlana Tichanowskaja und Veronika Zepkalo (von links nach rechts) im Wahlkampf
Opposition in Belarus: Maria Kolesnikowa, Swetlana Tichanowskaja und Veronika Zepkalo (von links nach rechts) im Wahlkampf
© dpa/AP/Sergei Grits

Grünen-Chefin Annalena Baerbock hat persönliche Sanktionen gegen Lukaschenko gefordert. „Mit Blick auf Belarus muss die Europäische Union jetzt klar Farbe bekennen“, sagte Baerbock am Samstag am Rand eines Landesparteitag der nordrhein-westfälischen Grünen in Dortmund.

Es reiche nicht aus, dass die EU angesichts der Gewalt in Belarus Sanktionen für Lukaschenkos Unterstützer auf den Weg gebracht habe. Sanktionen müssten sich gerade gegen „denjenigen, der dafür verantwortlich ist“, richten. „Und das ist Herr Lukaschenko“, sagte die Grünen-Chefin. Denkbar seien etwa Einreisebeschränkungen für den Diktator oder das Einfrieren seiner Konten im Ausland.

Weitere Proteste am Wochenende

Lukaschenkos Herausforderin Swetlana Tichanowskaja hatte am Freitag aus ihrem Exil im EU-Land Litauen zu neuen friedlichen Massenaktionen aufgerufen. „Lasst uns zusammen unsere Stimmen verteidigen“, sagte sie in einer Videobotschaft. Viele Menschen sind auch wegen des brutalen Vorgehens der Polizei gegen friedliche Demonstranten wütend.

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Auch die Staatspräsidenten von Litauen und Estland betonten am Abend, das Wahlergebnis könne nicht anerkannt werden. Die von Fälschungsvorwürfen überschattete Abstimmung sei nicht frei und demokratisch gewesen, sagten Gitanas Nauseda und Kersti Kaljulaid nach einem Treffen in Vilnius. Es reiche nicht aus, nur zur Situation vor der Wahl zurückzukehren. Es müssten freie und demokratische Wahlen abgehalten werden.

Doch Lukaschenko hat noch seinen Sicherheitsapparat auf seiner Seite. 

„Verschwinde!“ - Protest gegen Präsident Lukaschenko in Minsk
„Verschwinde!“ - Protest gegen Präsident Lukaschenko in Minsk
© AFP/Sergei Gapon

Anfangs ging die Polizei sehr brutal gegen die Demonstranten vor, teilweise tut sie es immer noch, auch wenn sich die Beamten zuletzt zurückhielten. Fast 7000 Menschen wurden seit Sonntag im ganzen Land festgenommen, mehr als 2000 von ihnen kamen am Freitag frei.

Einige berichteten von unmenschliche Bedingungen in den Gefängnissen. So schilderte der russischer Journalist Nikita Telizhenko nach seiner Freilassung, dass die Gefangenen – mit ihren Händen auf dem Rücken gefesselt – auf den Bauch gelegt wurden. Als die Zellen voller wurden, wurden die Menschen aufeinander gestapelt. Wollten sie sich bewegen, wurde sie von den Polizisten geschlagen. Rund 60 Gefangene mussten sich eine Flasche Wasser und einen Laib Brot teilen.

Eine freigelassene Demonstrantin schilderte am Freitag in einem Video, dass zehn Beamte der Sondereinheit „OMON" sie verprügelten, ihr die Hose auszogen und drohten, sie zu vergewaltigen und zu töten. „Sie behandelten uns wie Hunde...es ist wie 1941“, sagt die Frau in die Handykamera eines Journalisten. Freigelassene Demonstranten wurden teils direkt vor dem Minsker Gefängnis von Krankenwägen abgeholt.

Der Präsident ordnete am Abend der Staatsagentur Belta zufolge an, dass Polizisten auf dem Boden liegende Demonstranten nicht verprügeln dürften. Die Uniformierten hätten es nicht nötig, auf ihre Mitbürger einzuschlagen, behauptete er. Er bezeichnete die Demonstranten erneut als Ex-Kriminelle.

UN will Prüfung von möglicher Folter und Misshandlung

UN-Generalsekretär António Guterres rief die Bürger von Belarus indes zum friedlichen Dialog über die Wahl auf. Der Generalsekretär betonte, wie wichtig es sei, dass alle Belarussen ihre politischen und Bürgerrechte ausüben dürften. „Dazu gehört es, ihre Ansichten friedlich und im Rahmen des Gesetzes auszudrücken“, sagte sein Sprecher Stéphane Dujarric am Freitagabend (Ortszeit) in New York. Die Behörden müssten in ihrer Reaktion auf die Demonstrationen Zurückhaltung üben. „Vorwürfe der Folter oder anderer Misshandlungen von Menschen in der Haft müssen gründlich untersucht werden.“

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Auch am Freitagabend demonstrierten wieder Tausende Menschen in vielen Städten des Landes. Sie bildeten Menschenketten und sangen friedlich. Auf Videos in sozialen Netzwerken war zu hören, wie Autos hupend durch die Städte fuhren. Besonders Frauen organisierten sich zu friedlichen Protesten. Ihr Erkennungszeichen ist weiße Kleidung, viele haben Blumen als Ausdruck des friedlichen Protests in der Hand.

Allerdings gab es wieder Berichte über Störungen im Internet. Die Behörden setzen dies als Taktik ein, um Proteste kleinzuhalten. Bereits am Wahltag hatten die Behörden das Internet gedrosselt, Plattformen wie Facebook, Whatsapp, Instagram und zeitweise auch der Messenger Telegram waren nicht abrufbar. (dpa, AFP, Tsp)

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