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Lehrermangel, marode Schulen, zu große Klassen - in Deutschlands Bildungswesen gibt es gravierende Defizite.
© Caroline Seidel/dpa

Notstand in den Schulen: Deutschland muss eine neue Bildungskatastrophe verhindern

Der Anspruch auf Bildung wird trotz zahlreicher Versprechen nicht hinreichend eingelöst. Dabei müssen die Kinder von heute so viel lernen wie keine Generation vor ihnen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Caroline Fetscher

Am Anfang war das Wort, ist es noch und wird es bleiben. Alle Bildung, alle Ausbildung beginnt mit Worten, mit dem Eintauchen in das Bad der Sprache. Begriffe zeugen vom Begreifen und Fragen von Wissbegierde, mit der jede Entwicklung anfängt. „Wieso? Weshalb? Warum?“ singt der Chor der Kinder zum Auftakt der „Sesamstraße“.

Kinder und Jugendliche von heute werden voraussichtlich so alt wie noch keine Generation vor ihnen. Hineingeboren werden sie in eine technologisch und politisch hochkomplexe, sich dynamisch transformierende, konfliktreiche Welt. Sie wandern durch das wilde Digitalien, hören, lesen Virtuelles und müssen Netzmüll, Hetze und Fakes von Gehalt- und Sinnvollem unterscheiden. Später sollen sie Mikroprozessoren kennen und Makroökonomik, und allesamt werden sie ohne Englisch, die globale Lingua franca, kaum einen Fuß auf den Boden der Zukunft bekommen. Sie werden also auch so viel lernen, verstehen und beurteilen müssen wie keine Generation zuvor.

Eine „Bildungsrepublik Deutschland“ hatte Angela Merkel versprochen. Das klang nach einem prachtvollen Programm, einer passenden Vision für ein steinreiches Land. 2008 war das, vor einem Jahrzehnt. 2012 wurde erst mal das Gymnasium um eine Jahrgangsstufe gekappt – ein fataler Fehler. Doch auch an die Schlagzeilen zum Ausfall von Unterricht und zu maroden Schulen hat sich die Politik offenbar gewöhnt.

Jetzt haben Forscher im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung errechnet, dass bis 2025 allein an Grundschulen 35.000 Lehrkräfte fehlen werden. Zu wenige junge Leute studieren auf Lehramt, besagt die Studie, es gibt zu wenige Quereinsteiger, es fehlen bundesweit einheitliche Standards zur Qualifizierung von Lehrpersonal. Eine neue Bildungskatastrophe kündigt sich an. Die erste hatte 1964 der Pädagoge Georg Picht ausgerufen, er warnte unter anderem vor Lehrermangel für die Generation der Babyboomer.

Begriffe wie "doppelte Halbsprachigkeit" und "Bikulturalität" verharmlosen das Problem

Heute erfordert die Lage noch mehr Anstrengung, denn in Städten wie Berlin oder Hamburg kommt die Hälfte der Erstklässler aus Elternhäusern „nicht deutscher Herkunft“, mit dem Behördenkürzel „ndh“ markiert. Viele erreichen im Kosmos der Verständigung nur das, was Pädagogen bekümmert „doppelte Halbsprachigkeit“ nennen und Beschöniger als „Bikulturalität“ idealisieren. Ganz gleich, wie es heißt: Der Anspruch auf Bildung wird nicht hinreichend eingelöst.

Das belegen auch Bestseller zu Erfahrungen von Lehrern, gleich drei ihrer Autoren kommen übrigens aus Berlin. Stephan Serins Berichte „aus den Niederungen deutscher Klassenzimmer“ offenbarten 2010 Unfassliches über den dysfunktionalen Bildungsbetrieb, 2012 rüttelte Philipp Möllers „Isch geh Schulhof“ die Leser auf, ebenso wie die unter dem Pseudonym Frau Freitag publizierten tragikomischen Erlebnisse einer Berliner Lehrerin, etwa in „Echt easy, Frau Freitag“ von 2013.

Bildungsferne ist nicht neu. Mit sardonischem Lächeln pflegte Georg Picht ein Wort aufzuschreiben, das ein Jugendlicher 1964 auf dem Fragebogen zur Studie als Beruf eingetragen hatte: „Begaxel“. Wer Badisch im Ohr hatte, konnte drauf kommen, gemeint war „Bäckergeselle“. Heute genügt der Blick in einen beliebigen Chatroom, um das Desaster zu erahnen – und alles verändern zu wollen, für eine echte Bildungsrepublik.

Schulen müssen dem Zersprengen der Gesellschaft entgegenwirken

Schulen müssen Paläste werden, Lernpaläste und Lebenspaläste. Sie müssen dem Zersprengen der Gesellschaft entgegenwirken, Kritikfähigkeit lehren, Konfliktschlichtung, Kulturtechniken wie den Dialog. Schulen brauchen Räume für Kunst, Musik und Computer, sie brauchen Labore und Küchen, Gärten und Sportplätze, Gratis-Nachhilfe, Psychologen, Erzieher und vor allem motivierte, erstklassig ausgebildete, bestens bezahlte Lehrer, Lehrer, Lehrer. Aber was, wenn es irgendwann zu viele Lehrer gibt? Falsche Frage! Dann werden eben die Klassen kleiner und die wichtigste Ressource der Lehrenden wird größer: Zeit.

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