Mehr Geimpfte, aber steigende Inzidenz: Deutschland macht sich locker – was geht wann?
Die Forderungen, das Leben weiter zu normalisieren, werden lauter. Manchen gehen die Lockerungen aber zu schnell. Die Linke will sogar weitere Pläne aussetzen.
Die Impfkampagne in Deutschland hat zwar an Tempo verloren, doch immer mehr Bürgerinnen und Bürger gelten als vollständig geschützt. Nachdem Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Samstag verkünden konnte, dass nun auch genug Vakzine für alle vorhanden sind, wird die Frage dringender, was wann wie aufgehoben werden kann, darf und gar muss.
So forderte der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) eine weitere Lockerung der Corona-Regeln bei deutlich steigender Impfquote. „Wenn alle ein vollständiges Impfangebot erhalten haben und die Impfung vor schweren Verläufen auch neuerer Varianten schützt, müssen wir unsere Corona-Maßnahmen schrittweise wieder zurücknehmen“, sagte der Regierungschef der „Welt am Sonntag“.
In Deutschland sind inzwischen mehr als 42 Prozent der Gesamtbevölkerung vollständig gegen das Coronavirus geimpft, mehr als 58 Prozent haben zumindest die erste Dosis bekommen.
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Ähnlich argumentierten CSU-Generalsekretär Markus Blume und der Chef der Hamburger CDU, Christoph Ploß. Blume sagte: „Sobald jeder Bürger ein komplettes Impfangebot erhalten hat und der Impfschutz auch wirksam bleibt, geht die Gesamtverantwortung vom Staat wieder auf den einzelnen Bürger über. Das heißt: Mit dem Impfschutz für alle endet auch die Zeit der Beschränkungen für alle. An diesem Punkt sind wir aber noch nicht.“
FDP-Chef Lindner fordert Normalisierung
Ploß ergänzte: „Kaum ein vollständig Geimpfter wird die Einschränkung seiner Grund- und Freiheitsrechte weiterhin akzeptieren, wenn alle ein Impfangebot erhalten haben. Für vollständig Geimpfte müssen die Einschränkungen spätestens dann fallen.“
Auch Außenminister Heiko Maas (SPD) hatte sich jüngst für eine Aufhebung aller Corona-Einschränkungen ausgesprochen, sobald alle Menschen in Deutschland ein Impfangebot bekommen haben. Damit sei im Laufe des Augusts zu rechnen.
FDP-Chef Christian Lindner sagte: „Die von der FDP mitgetragene Landesregierung in NRW zeigt den richtigen Weg. Eine Normalisierung des gesellschaftlichen Lebens ist verantwortbar und geboten. Es ist dabei völlig richtig, die Maskenpflicht weitgehend aufzuheben und nur in den wirklich sensiblen Bereichen aufrechtzuerhalten, wie den Bussen und Bahnen.“
Ministerpräsident Hans schloss sich zudem der Forderung unter anderem von Intensivmedizinern und Wirtschaftsverbänden an, bei der Bewertung der Corona-Lage nicht mehr nur auf den Inzidenzwert zu blicken, der bisher Gradmesser für Auflagen und Lockerungen ist. „Je mehr Menschen geimpft und getestet sind, desto mehr verliert der Inzidenzwert allein an Aussagekraft“, erklärte Hans. Deshalb sollte im Herbst der Fokus mehr auf die Intensivbettenbelegung in den Krankenhäusern gerichtet werden.
Spahn will von Kliniken mehr Infos
Spahn fordert in diesem Punkt mehr Informationen von den Kliniken und hat die Meldeverordnung dahingehend erweitert, wie „Bild am Sonntag“ (BamS) berichtete. Demnach müssen für alle im Krankenhaus behandelte Corona-Patienten, Alter, Art der Behandlung und Impfstatus gemeldet werden.
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„Da die gefährdeten Risikogruppen bereits geimpft sind, bedeutet eine hohe Inzidenz nicht automatisch eine ebenso hohe Belastung bei den Intensivbetten“, sagte Spahn. „Wir wollen wissen, wer erkrankt und wie gut er geschützt ist. Nur so können wir zeitnah abschätzen, wie hoch die Belastung für das Gesundheitssystem wird und wie gut die Impfungen wirken.“
17 Prozent wollen sich nicht impfen lassen
Wegen der sich auch in Deutschland immer mehr verbreitende Delta-Variante, die als um bis zu 60 Prozent ansteckender als das ursprüngliche Coronavirus gilt, geht das Robert Koch-Institut (RKI) davon aus, dass erst bei einer Impfquote von 85 Prozent die sogenannte Herdenimmunität erreicht wird. Allerdings geben einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Insa für die BamS 17 Prozent der Menschen in Deutschland an, noch nicht geimpft zu sein und sich auch nicht impfen lassen zu wollen.
Am Sonntag meldete das RKI den fünften Tag in Folge eine steigende Sieben-Tage-Inzidenz, allerdings im Vergleich zu Ländern wie Großbritannien, Frankreich, Niederlande oder Spanien auf sehr niedrigem Niveau. Am Sonntag lag der Wert demnach bei 6,2 Neuinfektionen in sieben Tagen pro 100.000 Einwohner (Vortag: 5,8; Vorwoche: 5,0). Binnen eines Tages gab es 745 Neuinfektionen. Vor einer Woche waren es 559 Ansteckungen. Außerdem wurden sechs neue Covid-19-Tote registriert.
Linke: Vorerst nicht weiter lockern
Den Forderungen nach mehr Freiheiten stehen aber auch andere Stimmen gegenüber. So sprach sich die Linke klar gegen weitere Lockerungen ausgesprochen. Diese seien dann richtig, wenn ein Großteil der Bevölkerung vollständig geimpft sei – erst dann sinke das Risiko schwerer Krankheitsverläufe, sagte Co-Parteichefin Susanne Hennig-Wellsow am Sonntag der Deutschen Presse-Agentur. „Doch diese Zeit ist noch nicht gekommen.“ Es brauche ein Moratorium – also einen Aufschub – weiterer Lockerungen, forderte sie.
„Nur so gewinnen wir die Zeit, die nötigt ist, damit mehr Menschen den vollen Impfschutz bekommen, bevor die vierte Welle einschlägt.“ Die Pandemie sei immer noch da. Der Schutz der Gesundheit stehe nach wie vor an erster Stelle, sagte Hennig-Wellsow. „Wir sollten daher nicht den Fehler von Boris Johnson in Großbritannien machen und wichtige Schutzmaßnahmen wie die Maskenpflicht vorzeitig aufheben.“ Die Linke-Vorsitzende sprach sich dafür aus, „noch eine ganze Weile“ an Maßnahmen wie Abstand und Masken festzuhalten und auf Großveranstaltungen zu verzichten.
Auch Bouffier fordert Vorsicht
Auch Hessens Ministerpräsident rät Volker Bouffier zu Vorsicht. „Zunächst sollten wir zumindest drei Monate abwarten, denn dann wissen wir besser, welche Auswirkungen die Delta-Variante und die Reiserückkehrer haben. Ich halte daher eine weitere Maskenpflicht in Abwägung zu den möglichen Auswirkungen für eine geringere Einschränkung“, sagte der CDU-Politiker der „Welt am Sonntag“.
Auch der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warnte angesichts der Delta-Variante vor zu schnellen Lockerungen. „Wir dürfen nicht den Fehler machen, zu viel zu öffnen“, sagt er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Bei Treffen in Innenräumen müsse man besonders vorsichtig sein. Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen gehe zum Beispiel zu schnell bei er Öffnung voran. Dort gebe es eine Zwischenstufe zwischen den sonst in Deutschland geltenden Maßnahmen und den Maßnahmen in England.
Der Virologe Alexander Kekulé von der Universität Halle schrieb auf Twitter, um die niedrige Inzidenz in Deutschland zu halten, bedürfe es ab sofort „für ungeimpfte Einreisende aus fallen Urlaubsländern 5 Tage Quarantäne“. Anschließend müsste ein PCR-Test durchgeführt werden.
Auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble rief die Menschen auf, weiter achtsam zu sein. „Ich sehe mit großer Sorge, was im Fußballstadion von Wembley oder in manchen Urlaubsorten los ist“, sagte der CDU-Politiker der BamS. Wer sich unvernünftig verhalte und keine Vorsichtsmaßnahmen einhalte, setze alle der Gefahr einer vierten Welle aus. „Deshalb: Liebe Leute, freut euch, dass wir wieder essen gehen, Leute treffen können, aber übertreibt es nicht“, mahnte der Parlamentspräsident.
Schäuble: Jugendliche impfen, wenn sie es wollen
Schäuble warnte zugleich vor neuen Schulschließungen und sprach sich für die Impfung von Jugendlichen aus. „Man sollte Jüngere impfen, wenn sie es wollen. Wenn wir es durch Impfungen der 12- bis 17-Jährigen schaffen, dass wir Einschränkungen im Schulbetrieb vermeiden, dann ist das ein gewichtiges Argument“, betonte Schäuble.
Schäuble sagte weiter: „Und bevor wir riskieren, wieder Schulen schließen zu müssen, bin ich dafür, in geschlossenen Räumen weiter Masken zu tragen. Für mich wäre es entsetzlich, wenn wir wieder zu einem Lockdown kämen, der die Jüngsten trifft.“ Kitas, Schulen und Unis zu schließen sei alles andere als harmlos. „Die Einschränkungen für die Kinder und Jugendlichen sind massiv“, machte der Bundestagspräsident deutlich.
SPD-Chefin Saskia Esken und Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt forderten ebenfalls, den Fokus auf die Jüngeren zu legen. „Die Gesundheit ebenso wie die Bildungs- und Entwicklungschancen der jungen Generation müssen jetzt im Vordergrund stehen“, sagte Esken den Zeitungen der Funke Mediengruppe. „Die junge Generation hat jetzt mehr als ein Jahr aus Rücksicht auf die ältere Generation auf vieles verzichtet, jetzt darf sie dieselbe Rücksichtnahme von den überwiegend geimpften älteren Erwachsenen erwarten.“ Göring-Eckardt sagte: „Wir laufen mit Ansage in einen zweiten Corona-Herbst, und wieder unternimmt die Bundesregierung viel zu wenig, um Kitas und Schulen zu sichern. Kinder, Jugendliche und ihre Familien drohen erneut, vergessen zu werden.“