Was bedeutet das Urteil zu Anleihekäufen der EZB?: Ökonomen sprechen von einer Kriegserklärung, Politiker fürchten um die EU
Wegweisendes Urteil aus Karlsruhe: Das Verfassungsgericht beanstandet die milliardenschweren Staatsanleihenkäufe der Europäischen Zentralbank (EZB). Und nun?
Ausgerechnet mitten in die Coronakrise platzt das Verfassungsgericht mit der Entscheidung über die Geldpolitik der EZB.
Der Ökonom Clemens Fuest, Präsident des Münchener Ifo-Instituts bezeichnet das Urteil als „Kriegserklärung“. Der ehemalige EZB-Vizepräsident Vítor Constâncio wirft den Richtern eine „lächerliche Abgrenzung zwischen Geld- und Wirtschaftspolitik“ vor. Politiker fürchten um den Zusammenhalt in der EU.
Worüber haben die Richter entschieden?
Mit dem Urteil hat das Gericht mehreren Verfassungsbeschwerden gegen ein Ankaufprogramm der Europäischen Zentralbank für Staatsanleihen teilweise stattgegeben. Mit diesem „Public Sector Purchase Programme“ (PSPP) erwirbt die EZB die Anleihen nicht direkt, sondern kauft sie auf, wenn sie bereits gehandelt werden.
Die EZB will damit die Verzinsung der Schuldentitel klammer Mitgliedstaaten dämpfen und Geschäftsbanken dazu anhalten, Kredite zu gewähren. Das PSPP ist Teil eines Großprogramms, das auf eine stabile Inflationsrate im Euroraum von knapp zwei Prozent abzielt. Die Kläger sehen darin aber im Ergebnis doch eine verbotene direkte Staatsfinanzierung durch die EZB.
Was sagen die Richter zu diesem Vorwurf?
Eine direkte Staatsfinanzierung können sie zwar nicht erkennen. Allerdings hat das Gericht die Bundesregierung und den Bundestag dazu aufgerufen, die Anleihekäufe zu prüfen. Konkret werden sie die EZB dazu auffordern müssen, nachzuweisen, dass das Kaufprogramm verhältnismäßig ist. Die bisherigen Beschlüsse der EZB zuden Anleihekäufen seien aber nicht mit den Vorgaben des Europarechts vereinbar, sagte Gerichtspräsident Voßkuhle. Sein Senat sieht darin einen Akt „Ultra vires“, also jenseits der den EU-Institutionen zustehenden Befugnisse.
Warum kann das Bundesverfassungsgericht über EU-Befugnisse urteilen?
Eigentlich ist es Sache des Europäischen Gerichtshofs, über die Einhaltung europäischen Rechts zu wachen – und damit auch über das Mandat der formal unabhängigen EZB. Die Karlsruher Richter haben es sich aber stets vorbehalten, deutsche Beiträge zu aus ihrer Sicht unionsrechtswidrigen Akten zu stoppen. Vermieden werden soll, dass EU-Maßnahmen Kompetenzen des deutschen Staats aushöhlen. Eine solche Kontrolle kann jeder wahlberechtigte Bürger mittels einer Verfassungsbeschwerde veranlassen. Insbesondere das Budgetrecht des Bundestags und seine „haushaltspolitische Gesamtverantwortung“ seien ein „unverfügbarer Teil des grundgesetzlichen Demokratieprinzips“, betont das Gericht.
Welche „Ultra-vires-Akte“ der EU wurden bisher festgestellt?
Keine. Das Bundesverfassungsgericht geht diesen Schritt zum ersten Mal. Bisher war stets von einem „Kooperationsverhältnis“ zwischen dem Karlsruher Gericht und der EU-Justiz in Luxemburg die Rede. Der Streit um die EZB-Maßnahmen wandert seit Jahren zwischen beiden hin und her. Jetzt kommt es erstmals zum offenen Konflikt. Besonders brisant wird er dadurch, dass der EuGH das umstrittene Kaufprogramm ohne Bedenken hinsichtlich des EZB-Mandats abgesegnet hat. Auch dieses Urteil nennt der Karlsruher Senat jetzt einen Akt „ultra vires“. Der EuGH habe darauf verzichtet, die tatsächlichen Auswirkungen des Programms zu prüfen. Sein Urteil sei „methodisch nicht mehr vertretbar“. Man müsse sich nicht daran halten.
Kann der Konflikt zum Bruch führen?
Es besteht die Gefahr, dass sich Verfassungsgerichte anderer Mitgliedstaaten daran ein Beispiel nehmen. Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle war bemüht, das Vorgehen als Ausnahme hinzustellen. Er unterstrich selbst, dass derartiges Handeln die Einheitlichkeit des EU-Rechts in Frage stellen kann.
Andererseits muss es seiner Ansicht nach möglich sein, sich gegen schleichende Kompetenzausweitungen der EU zu wehren. Diese Spannungslage sei „im Einklang mit der europäischen Integrationsidee kooperativ auszugleichen und durch wechselseitige Rücksichtnahme zu entschärfen“.
Wie reagiert die Politik auf das Urteil?
In Berlin wird das Karlsruher Urteil durchaus als Paukenschlag wahrgenommen. „Das Bundesverfassungsgericht hat der Bundesbank sehr stark den Rücken gestärkt“, sagte der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag, Gunther Krichbaum, dem Tagesspiegel. Allerdings sieht Krichbaum die möglichen europapolitischen Folgen des Urteils sehr kritisch.
Nach seinem Eindruck hätten die Karlsruher Richter mit dem „EuGH noch eine Rechnung offen“ gehabt. Die Tatsache, dass das Verfassungsgericht die vorige Entscheidung der Luxemburger Richter in Frage gestellt habe, könne in der EU zu einer „Erosion der Rechtsgemeinschaft“ führen, warnte er. Wenn eine Prüfung von EuGH-Urteilen durch nationale Gerichte demnächst zur Regel werde, „dann kann ich mir vorstellen, was in Zukunft in Polen, Ungarn und anderen Staaten los sein wird“, sagte Krichbaum.
Trotz allem herrscht im Regierungslager aber keine Alarmstimmung. Dies macht die Reaktion von Eckhardt Rehberg, des haushaltspolitischen Sprechers der Unionsfraktion, deutlich. Rehberg wies zunächst einmal darauf hin, dass das Verfassungsgericht im Anleihekaufprogramm PSPP keine monetäre Staatsfinanzierung und keine Verletzung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Bundestages sehe.
In der Praxis werde das Urteil nach seinen Worten dazu führen, dass die Unionsfraktion den Rat der EZB auffordern werde, innerhalb von drei Monaten eine Verhältnismäßigkeitsprüfung für das PSPP vorzulegen.
In der Opposition in Berlin fielen die Reaktionen unterdessen sehr unterschiedlich aus. Der FDP-Abgeordnete Frank Schäffler fasste das Urteil im Deutschlandfunk so zusammen: „Es ist ein guter Tag für die Demokratie in diesem Land und den Währungsraum insgesamt.“ Schäffler forderte, dass sich der Bundestag und die Fachausschüsse in Zukunft stärker als bisher mit den Programmen der EZB befassen müssten.
Lisa Paus, die finanzpolitische Sprecherin der Grünen, sieht in dem Urteil dagegen eine Bestätigung dafür, dass die Bundesregierung in der Vergangenheit die Verantwortung für den Zusammenhalt des Euro vor allem auf die EZB abgeschoben habe. „So hat die Bundesregierung sich und die EZB unnötig in eine Zwickmühle gebracht“, sagte Paus.
Was bedeutet das Urteil für die EZB?
Das Verfassungsgericht hat den EuGH insoweit bestätigt, dass die Anleihekäufe vom Mandat der EZB gedeckt sind. Deshalb sagt Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer: „Die Anleihekäufe der EZB werden weiter gehen.“ Folgen könnte das Urteil in Zukunft aber für die Bundesbank haben, die im Auftrag der EZB einen Teil der Anleihen erwirbt. Sollte die EZB die Verhältnismäßigkeit nicht binnen drei Monaten nachweisen, dürfte die Bundesbank nicht weiter an dem Anleihenkaufprogramm der EZB teilzunehmen.
Bundesbank-Präsident Jens Weidmann, der auch Mitglied im EZB-Rat ist, sagte, er werde „die Erfüllung dieser Vorgabe unter Beachtung der Unabhängigkeit des EZB-Rats werde ich unterstützen“.
Ohne die Bundesbank wird es der EZB schwer fallen, das Programm fortzusetzen, weil Deutschland der größte Anteilseigner der EZB ist und entsprechend viele Anleihen in deren Auftrag ankauft.
Was bedeutet das Urteil für die EU-Hilfen für Staaten wie Italien in der Coronakrise?
Um Länder wie Italien während der Pandemie zu stützen, hat die EZB ein Notfallprogramm mit umfassenden Anleihekäufen aufgelegt. Das Programm mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro, das mindestens bis Ende des Jahres läuft, war zwar nicht Gegenstand der Verhandlung in Karlsruhe.
Allerdings gehen die Europaexpertin Franziska Brantner und der Haushälter Sven-Christian Kindler von den Grünen bereits davon aus, dass auch das neue Programm gerichtlich angefochten werden wird. „Das bringt neue rechtliche Unsicherheiten, die wir uns in dieser Lage nicht leisten können“, befürchten Brantner und Kindler.
Auch wenn das aktuelle Aufkaufprogramm der EZB am Ende nach einer möglichen gerichtlichen Prüfung Bestand haben sollte, hat das Urteil vom Dienstag schon jetzt Auswirkungen auf die Diskussion um einen EU-Wiederaufbaufonds, mit dessen Hilfe die Konjunktur in Ländern wie Italien wieder angeschoben werden könnte. So stellt sich nach Ansicht des CDU-Europapolitikers Krichbaum die Frage, ob bereits auf EU-Ebene beschlossene Finanzinstrumente wie Hilfen aus dem Euro-Rettungsschirm ESM und das europäische Kurzarbeitergeld ausreichten. „Es ist fraglich, ob ein Wiederaufbaufonds wirklich gebraucht wird“, sagt Krichbaum.
Was sagen Ökonomen?
Die Reaktionen fallen sehr unterschiedlich aus. Die einen bleiben entspannt, weil sie davon ausgehen, dass es der EZB gelingen wird, die Verhältnismäßigkeit von PSPP nachzuweisen und an den Anleihekäufen festhalten kann. Andere äußern harte Kritik. „Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts offenbart einen Mangel an ökonomischer Kenntnis“, meint zum Beispiel Matthias Weber von der Universität St. Gallen. „Die Alternativlosigkeit eines entschiedenen Handelns der EZB für das Überleben der Währungsunion scheinen die Richter nicht verstanden zu haben.“
Ohne die Anleihekäufe wäre die Eurozone schließlich nicht so glimpflich durch die Eurokrise gekommen. Und auch in der Coronakrise hat das Notkaufprogramm vielen Mitgliedstaaten Entlastung gebracht. Solche Maßnahmen werden in Zukunft aber wohl sehr viel schwerer durchzusetzen sein, sagt Friedrich Heinemann vom ZEW in Mannheim.
„Die Botschaft, dass kein Euro-Staat darauf bauen kann, eine staatliche Überschuldung mit Hilfe der Zentralbank zu lösen, wird für die Eurozone in den kommenden Jahren eine große Bedeutung haben.“
Ifo-Präsident Clemens Fuest glaubt, dass das Urteil die Spielräume der EZB einengt. „Dadurch erhöht sich der Druck auf die Regierungen des Euroraums, Hilfen für einzelne Mitgliedstaaten über die Fiskalpolitik bereitzustellen, statt sich auf die EZB zu verlassen“, sagte Fuest. Dass die Eurozone daran zerbrechen könnte, glauben Beobachter aber nicht. "Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts rüttelt nicht an den Grundfesten der Währungsunion", sagt Andreas Krautscheid, Hauptgeschäftsführer des Bankenverbandes.
Wie reagieren die Finanzmärkte?
Der Dax gab zwar innerhalb weniger Minuten um 200 Punkte nach, erholte sich dann aber wieder. Deutlich nachgegeben hat der Euro. Er verlor so stark gegenüber dem Dollar, dass ein Euro wieder weniger als 1,09 Dollar kostete. Âuch die Kurse spanischer und italienischer Staatsanleihen gaben deutlich nach.